Dreizehntes Kapitel.

Flucht aus dem Wrack. – Der Wächter an der Fähre. – Untergang. – Gesunder Schlaf. –

[95] Mir ging der Atem aus und ich fiel beinahe um vor Entsetzen. Hier auf dem Wrack allein mit einer solchen Bande wie die da drunten, das war kein Spaß! Jetzt mußten wir ihr Boot finden – mußten's für uns selbst haben! So krochen wir zitternd und bebend zurück und es schien eine Ewigkeit, eine Woche wenigstens, bis wir zum Hinterteil des Schiffes gelangten. Ein Boot aber war nirgends, nirgends zu sehen. Jim sagte, er könne sich kaum noch aufrecht halten, so schlotterten ihm die Kniee, solche Angst habe er in seinem Leben noch nicht ausgestanden. Ach, du mein Himmel, mir[95] ging's nicht viel besser, aber gesagt hätte ich nichts um alles in der Welt. Ich trieb ihn nur vorwärts und versicherte ihm, daß, wenn wir hier blieben, wir zwischen den Wellen und den Kerlen da drinnen garstig in der Klemme säßen. Wir also wieder drauf los und weiter gesucht! Immer vorwärts tastend hatten wir schon beinahe den Teil erreicht, wo das Deck sich gegen die Wasserfläche gesenkt hatte, da – seh' ich einen dunklen Klumpen im schwarzen Schatten da drunten und weiß Gott und wahrhaftig, es war ein Boot! Ob wir froh waren und dankbar und aufatmeten! Eben wollten wir uns hinunterlassen, da öffnet sich dicht neben mir eine Lucke und ein Kopf erscheint. Es ist einer von den Kerlen! Daß er mich nicht gesehen, war das reine Wunder! Er aber dreht den Kopf nach rückwärts und flüstert:

»Thu' doch die verdammte Laterne weg, Bill, die kann uns ja verraten!«

Er warf einen Sack mit etwas ins Boot, schwang sich selbst nach und setzte sich. Es war Jack. Dann kam Bill nachgekrochen und war auch schon unten. Wispert Jack:

»Fertig – stoß ab!«

Ich konnte mich kaum mehr festhalten, so schwach wurde mir. Da flüstert Bill:

»Wart' ein wenig. Hast du ihn auch noch einmal genau durchsucht, den Hund?«

»Nein – hast du's denn nicht gethan?«

»Nein, Gott straf' mich! Da hat der Kerl also noch seinen Teil an Barem in der Tasche?«

»Nun dann aber geschwind zurück! – es hat freilich keinen Wert, all den Kram fortzuschleppen und das Geld dahinten zu lassen. Komm' schnell!«

»Wird er denn aber nicht merken, was wir im Schilde führen, he?«[96]

»Vielleicht – vielleicht auch nicht! Einerlei – haben müssen wir's, also vorwärts!«

So kletterten die Kerle wieder zurück und verschwanden.

Ob wir flink unten und im Boot drin waren! Mir schien's, als packe uns ein Wirbelwind! Messer heraus, Leine durch – auf und los und davon, eh' einer Amen sagen konnte!

Wir rührten keine Ruder, verloren kein Wort, atmeten kaum. Lautlos glitten wir davon, totenstill, am Schiff entlang und waren in ein paar Minuten außer Hör-, Gesichts- und Schußweite, sahen das Wrack in der Dunkelheit verschwinden, waren gerettet – und dankten unserm Schöpfer dafür.

Als wir ungefähr zwei oder dreihundert Meter entfernt waren, sahen wir eine Laterne wie ein kleines Sternchen für einen Augenblick über dem Wasser aufblitzen; jetzt hatten die Kerle gewiß entdeckt, daß das Boot weg war und sie ungefähr so schlimm dran seien wie Jim Turner.

Wir aber legten uns tüchtig in die Ruder und spähten nach unserm Floß aus. Da kam es mir plötzlich in den Sinn, mir wegen des Schicksals der Männer Gedanken zu machen, vermutlich hatte ich bisher keine Zeit dazu gehabt. Mir schien die Klemme, in die ich sie gebracht, selbst für Mörder etwas allzugrausam. Sag' ich zu mir selbst: wer weiß, alter Huck, was aus dir noch einmal wird, vielleicht nicht viel besseres und da wär' dir so 'was auch recht unangenehm. Ruf' ich deshalb Jim zu:

»Jim, beim ersten Licht, das wir sehen, machen wir Halt, legen an, verstecken dich und das Boot und ich geh' dann hin und fable den Leuten 'was vor, daß sie nach den Kerlen dort im Wrack sehen, damit die nicht wie Ratten ersaufen, sondern schön gehängt werden können, wenn sie einmal reif dafür sind!«

Die Idee aber war Essig, denn auf einmal begann der[97] Sturm wieder wie toll drauf los zu rasen, schlimmer als je. Es goß nur so in Strömen und nirgends die Spur von einem Licht, bei dem Hundewetter war wohl alles im Bett. Wir arbeiteten uns vorwärts, durch alles durch und schauten scharf nach Licht und nach unserm verlorenen Floße aus. Nach einiger Zeit ließ der Regen etwas nach, aber die Wolken blieben und der Blitz flammte hie und da noch auf und auf einmal zeigte uns ein Strahl etwas schwarzes, das vor uns dahinglitt. Wir natürlich flink drauf los.

Und wahrhaftig es war unser Floß. Wir waren froh wie die Maikäfer, uns drauf verkriechen zu können, auf unserm alten, lieben, verlorenen und wiedergeschenkten Floße. Wie doch der Mensch am Seinen hängt! Jetzt entdeckten wir auch ein Licht drüben am Ufer, nach dem wollte ich mich denn auch hinmachen, – die drei Kerle lagen mir zu schwer im Magen. Unser Boot war halb voll geladen mit Kram, den die Schurken gestohlen hatten. Den luden wir nun in einem Haufen auf unser Floß und ich hieß Jim langsam weiter treiben und nach einiger Zeit, so etwa nach einer Stunde, ein Feuer machen und es brennen lassen, bis ich zurück sei, damit ich ein Zeichen habe. Dann zog ich los und auf das Licht zu. Als ich näher kam, entdeckte ich noch andre an einem Hügel aufwärts – es mußte ein Dorf sein. Ich hielt auf das Uferlicht zu, zog die Ruder ein und ließ mich treiben, um erst ein wenig auszukundschaften. Im Vorbeigleiten sah ich denn, daß das Licht eine Laterne sei, die an einem Fährboot befestigt hing. Ich schaute nun nach dem Wächter aus, wo er schliefe, und fand ihn richtig vorn bei den Tauwinden seelig entschlummert, mit dem Kopf zwischen den Knieen. Ich stieß ihn dann zwei oder dreimal leicht an und begann zu schluchzen und zu heulen.

Er fuhr auf, sah sich etwas verstört um, als er aber[98] entdeckte, daß nur ich es sei, reckte und streckte und dehnte er sich erst behaglich und brummte dann:

»Halloh, was ist denn wieder los? Heul' nicht, Bub'! Was giebt's denn?«

Schluchz' ich:

»Vater und Mutter und Schwester und« –

Ich konnte nicht weiter vor Jammer. Dann sagt' er:

»O, Gott verdamm' mich, heul' nicht so, Jung', jeder hat seinen Packen zu tragen und deiner wird nicht gar zu schwer sein! Was ist denn los mit Vater und Mutter und Schwester?«

»Sie sind – sie sind – Sind Sie der Wächter von dem Fährboot?«

»Ja,« bestätigt er selbstgefällig, »der bin ich! Ich bin Kapitän, Eigentümer, Matrose und Lootse, Steuermann, Wächter – alles in einer Person. Oftmals auch alleinige Fracht und Passagier zugleich. So reich wie der alte Jim Hornback bin ich nicht, kann nicht so mit dem Gelde um mich werfen, wie er's thut, der's den Schlingeln: dem Tom und dem Dick und dem Harry nur so in die Taschen stopft, aber ich möcht' doch nicht mit ihm tauschen, nicht um viel. Denn, sag' ich zu ihm, ein Leben auf dem Wasser, das ist doch ein Leben; lieber ließ ich mich hängen, als da hinten an den Bergen zu kleben, wo man nicht weiß, ob die Welt geht oder still steht, nicht um alles möcht' ich das und wenn du mich in Gold fassen ließest und sag' ich –«

Nun fiel ich ein:

»Ach, ach, meine Leute werden gar nicht wissen, was sie thun sollen und –«

»Wer wird's nicht wissen?«

»Ei, der Vater und die Mutter und die Schwester und Miß Hooker. Ach, guter Herr, wenn sie doch ihr Boot nehmen wollten und hingehen und –«[99]

»Wohin? Wo sind sie denn?«

»Auf dem Wrack!«

»Auf welchem Wrack!«

»Ach, es ist ja nur eins da!«

»Was, du willst doch nicht sagen, auf dem ›Walter Scott‹?«

»Ja! Dort!«

»Großer Gott! Was ums Himmels Willen thun sie denn da?«

»Nun freiwillig sind sie nicht hingegangen!«

»Das glaub' ich wohl! Herr des Himmels, da sind sie ja einfach verloren, wenn sie nicht machen, daß sie schleunigst wegkommen. Wie in Gottesnamen sind sie denn eigentlich da hingeraten?«

»Sehr einfach! Miß Hooker war zu Besuch dort in der Stadt –«

»Booths Landing meinst du – weiter!«

»Also sie war zu Besuch in Booths Landing und gegen Abend wollte sie dann weg von dort und noch eine Freundin besuchen, um da zu übernachten, ein Fräulein – ach, ich hab' den Namen vergessen. Und mitsamt ihrer alten Niggerfrau ließ sie sich in der Fähre übersetzen und da verloren sie das Steuerruder mitten auf dem Wasser und wurden nun fortgerissen von den Wellen und gegen das Wrack geschleudert und Fähre und Fährmann und die Niggerfrau, alles war verloren. Nur Miß Hooker erwischte etwas vom Schiff, woran sie sich halten konnte und rettete sich so auf Deck. Gut also! Vielleicht eine Viertelstunde später kamen wir denn in unsrem Boot flußabwärts, vom Markt heim; es war so stichdunkel, daß wir das Wrack nicht eher sahen, als bis wir mit der Nase drauf stießen und es zu spät war. Das Boot war natürlich zum Kuckuck, aber retten thaten wir uns alle, nur[100] Bill Whipple – der ertrank – ach und der war der beste Kerl von der Welt, wahrhaftig, ich hätt' beinahe lieber all das Wasser selbst geschluckt, – das hätt' ich, meiner Seel' –«

»Herr, du mein Gott, das ist gewiß und wahrhaftig die merkwürdigste Geschichte, die ich je gehört! Na und dann? Was habt ihr dann gethan?«

»Nun, wir riefen und schrieen natürlich und waren wie toll; aber es ist so weit da draußen, da konnte uns gar niemand hören. Sagt' mein Alter: das nutzt alles nichts, einer von uns muß sehen, wie er ans Land kommt und Hilfe schafft. Gut also! Ich war der einzige, der schwimmen konnte, so mußte ich denn 'ran und mein Heil probieren. Kein langes Zaudern also! Ich denn 'rein und los. Miß Hooker rief mir nach, wenn ich nicht früher Hilfe fände, so solle ich nur machen, daß ich hierher käme zu ihrem Onkel, der werde schon Rat wissen. So schwimm' ich denn drauf los und komme auch richtig ans Land, vielleicht eine Stunde weiter da unten, aber wo ich auch anklopfe und meine Geschichte erzähle, alle weisen mich ab. ›Was‹, sagen sie, ›in der schrecklichen Nacht? Nein, mein Junge, das wäre Unsinn, da such' du sonst jemand – mach', daß du zur Dampf-Fähre kommst, wenn einer, so wird dir der dort helfen!‹ Und da bin ich, und – ach, wenn Sie doch wirklich gehen wollten und sehen und –«

»Meiner Seel', das will ich, will's gern thun, aber – sag' mal, weißt du, ganz umsonst kann ich's nicht, wie steht's denn mit – na, du weißt, was ich sagen will, wer wird mir's denn vergüten? Glaubst du, dein Vater kann –«

»Ach, darüber machen Sie sich keine Angst, das ist alles in Ordnung. Miß Hooker sagte noch ganz extra, ihr Onkel Hornback –«

»Was – der ist ihr Onkel? Paß mal auf, was ich dir sage, – siehst du dort das Licht? Gut, also, darauf[101] gehst du los und wenn du hinkommst, fragst du in der Wirtschaft nach Jim Hornback. Die werden dich dann zurecht weisen, aber eil' dich und halt dich nicht auf unterwegs, denn der wird's schnell wissen wollen. Und sag' ihm, ich wolle ihm seine Nichte bringen, heil und ganz, eh' er noch selbst zur Stadt kommen könne, er soll sich ja nicht ängstigen und – aber mach' doch, daß du fortkommst, Schlingel, – steht da und sperrt das Maul auf, statt den Weg unter die Füße zu nehmen! Vorwärts, ich werd' gleich abstoßen!«

Ich also thu', als ob ich dem gewiesenen Licht zurenne, kaum bin ich aber außer Hör- und Sehweite, schleich' ich in großem Bogen zurück, bis dahin, wo ich mein Boot versteckt, mach' dieses flott und lass' mich nun leise am Ufer hintreiben, verberg' mich dann zwischen ein paar Holzschiffen, denn ich mußte sehen, ob der Mann wirklich Ernst mache. Im Ganzen war ich sehr mit mir zufrieden, denn, denk' ich, viele hätten sich nicht so viel Mühe gemacht wegen der alten Diebsbande, sondern die ruhig Wasser schlucken lassen, bis sie genug gehabt – und verdient hätten sie's auch, die Kerle! Ich wollte, die Witwe hätte die Geschichte gehört, die hätte gewiß geweint vor Rührung über meine Großmut gegen die Schurken, denn merkwürdig, für Mörder und dergleichen Lumpengesindel hatte sie wie andere gute Seelen immer die größte Teilnahme.

Jetzt seh' ich, wie sich die Fähre richtig in Bewegung setzt, ich also 'raus aus meinem Versteck und flink drauf los gerudert, um zuerst an Ort und Stelle zu sein. Da erhebt sich auch schon das Wrack aus den Wellen, ganz geisterhaft dunkel und schwarz. Aber es sinkt rasch und zusehends, ist schon beinahe ganz mit Wasser gefüllt. Viel Spielraum, um frische Luft zu schöpfen, hatten die Kerle drin nicht mehr, – so viel war klar. Ich rudre denn ein bißchen näher drauf los, versuch' auch, die Burschen, falls sie überhaupt noch[102] existierten, schwach anzurufen, krieg' aber keine Antwort und denk': wollt ihr nicht, so will ich erst recht nicht!

Jetzt kommt auch schon die Fähre mit voller Kraft angedampft. Ich halt' nun nach der Mitte des Stroms zu und zieh' außer Hörweite die Ruder ein, um alles sehen und beobachten zu können. Die Fähre dampfte und schnüffelte um das Wrack herum, suchte nach Miß Hookers irdischen Resten, zum Trost des armen, seiner geliebten Nichte beraubten Onkels Hornback, konnte aber offenbar nichts entdecken und, da das Wrack von Minute zu Minute erschreckend rasch tiefer und immer tiefer sank, gab sie schließlich den Versuch nach kurzem ganz auf und dampfte dem Ufer zu. Ich aber zog nun gewaltig aus, den Fluß hinunter.

Schrecklich lang kam es mir vor, ehe ich Jims Licht entdeckte und als es endlich, endlich in Sicht kam, schien mir's noch wenigstens tausend Meilen entfernt. Als ich schließlich glücklich anlangte, dämmerte schon der Tag herauf im Osten. Wir hielten also auf eine kleine Insel zu, verbargen unser Floß, bohrten das vom Wrack mitgenommene Boot an, daß es sank, krochen in unsre Hütte und schliefen wie die Toten den Schlaf der Gerechten. –

Quelle:
Twain, Mark: Abenteuer und Fahrten des Huckleberry Finn. Stuttgart 1892, S. 95-103.
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