1.

[101] Wühlt jener schauervolle Sturm aus Norden

Zerstörend auch im frischen Liederkranze?

Ist der Gesang ein feiges Spiel geworden?

Wiegt fürder nur der Degen und die Lanze?

Muß schamrot abwärts fliehn der Sängerorden,

Wann Kriegerscharen ziehn im Waffenglanze?

Darf nicht der Harfner, wie in vor'gen Zeiten,

Willkommen selbst durch Feindeslager schreiten?


Bleibt Poesie zu Wald und Kluft verdrungen,

Bis nirgends Kampf der Völker Ruhe störet,

Bis das vulkan'sche Feuer ausgerungen,

Das stets sich neu im Erdenschoß empöret:

So ist bis heute noch kein Lied erklungen

Und wird auch keins in künft'ger Zeit gehöret.

Nein! über ew'gen Kämpfen schwebt im Liede,

Gleichwie in Goldgewölk, der ew'ge Friede.
[101]

Ein jedes weltlich Ding hat seine Zeit,

Die Dichtung lebet ewig im Gemüte,

Gleich ewig in erhabner Herrlichkeit

Wie in der tiefen Lieb und stillen Güte,

Gleich ewig in des Ernstes Düsterheit

Wie in dem Spiel und in des Scherzes Blüte.

Ob Donner rollen, ob Orkane wühlen,

Die Sonne wankt nicht und die Sterne spielen.


Schon rüsten sich die Heere zum Verderben,

Der Frühling rüstet sich zu Spiel und Reigen;

Die Trommeln wirbeln, die Trommeten werben,

Indes die wilden Winterstürme schweigen;

Mit Blute will der Krieg die Erde färben,

Die sich mit Blumen schmückt und Blütenzweigen:

Darf so der ird'sche Lenz sich frei erschließen,

So mög auch unser Dichterfrühling sprießen!

Quelle:
Ludwig Uhland: Werke. Band 1, München 1980, S. 101-102.
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