An Cäsar

Die Lage, worin ich mich gegenwärtig befinde, ist recht eigentlich dazu gemacht, meiner Phantasie einen ganz neuen Schwung zu geben. Abgeschnitten von Ihrem interessanten Umgang, mein angenehmer Freund, und auf mehrere Wochen getrennt von meiner theuren Eugenie, bin ich, mehr als jemals, auf mich selbst zurück geworfen. Die süße Gewohnheit, mich Ihnen oder meiner Freundin mitzutheilen, würde für mich zur Folter werden, böte mir die Schriftsprache keinen[3] Ausweg dar. Wenn ich mich lieber an Sie, als an meine Freundin, wende, so geschieht dies, weil ich aufs bestimmteste weiß, daß Sie nur allzu oft gewünscht haben, die Geschichte meiner Entwickelung vollständig zu vernehmen. Wie vollendet Ihre Diskretion auch seyn mag, mein angenehmer Freund, dieser Wunsch mußte in Ihnen entstehen, so oft Sie sich die Frage vorlegten: Woher es doch kommen möge, daß Ihre Mirabella, trotz ihrem Alter und ihrer Jungfrauschaft, noch immer ihren Platz in der Gesellschaft behauptet, und sogar ein Gegenstand der Zuneigung und Achtung bleibt? Gestehen Sie nur, daß Sie sich einige Mühe gegeben haben, dies Räthsel zu lösen, wäre es auch nur geschehen, um begreiflich zu finden, wie ich, zwischen einem Philosophen Ihres[4] Schlages und einer so gebildeten Frau, als unsere gemeinschaftliche Freundin ist, in der Mitte stehend, ein Band abgeben kann, das man als nothwendig empfindet, und immer ein wenig ungern zerreissen sehen wird. Ich müßte Sie aber sehr wenig kennen, wenn ich nicht vorher wissen sollte, daß die Hauptfrage, welche Sie sich in Hinsicht meiner vorgelegt haben, ohne sie jemals vollständig beantworten zu können, immer die gewesen ist: Wie ich mit den körperlichen und geistigen Eigenschaften, in deren Besitz ich gewesen und allenfalls auch noch bin, eine Jungfrau habe bleiben können? In Wahrheit, dies ist das Hauptproblem, das gelöset werden muß, wenn man mich in meiner Individualität begreifen will.

Nun, mein angenehmer Freund, jegliche[5] Frage, die Sie sich, während unserer zehnjährigen Bekanntschaft, in Beziehung auf mich vorgelegt haben mögen, soll Ihnen durch die nachfolgende Erzählung beantwortet werden. Ich will den Zufall, der mir die Feder in die Hand gegeben hat, recht eifrig benutzen, Sie mir für immer zu verbinden. Erst nach drei Wochen kann Eugenie zurückkehren. Bis dahin gehöre ich Ihnen, so viel ich die mit dem Schreiben unauflöslich verbundene Arbeit ertragen kann. Mein Wille ist der beste von der Welt; auch an Heiterkeit und Laune gebricht es mir nicht; denn der lange Winter, den wir seit einigen Wochen überstanden haben, macht einem so angenehmen Frühlinge Platz, daß das Gefühl des inneren Lebens mit verdoppelter Stärke zurückkehrt.[6]

Erwarten Sie aber in meiner Erzählung keine Abentheuer; ich habe nie zu denjenigen gehört, denen dergleichen begegnen können. Was in meiner Geschichte Außerordentliches ist, bleibt noch immer in der Regel, wenn man die Eigenthümlichkeit der Personen ins Auge faßt, welche einen so wesentlichen Einfluß auf meine Entwickelung hatten. Im Übrigen wissen Sie, mein angenehmer Freund, daß es wenig Menschen giebt, die mit ihrem Geschick zufriedener sind, als ich. Die Natur wollte nun einmal, daß in der Reihe der Wesen auch ein solches Geschöpf existiren sollte, wie ich bin. Eben so weit davon entfernt, mich als Muster darstellen zu wollen, als ich entfernt bin, meine eigene Anklägerin zu werden, will ich mich also nur in meiner Eigenthümlichkeit[7] schildern. Ob diese gut sey, oder nicht, darüber mögen Andere entscheiden. Ich selbst bin, wenn ich die Wahrheit gestehen darf, dahin gelangt, daß mich nichts so sehr in Verlegenheit setzt, als die Frage: Ob dies oder jenes gut sey? und nehme, sowohl für mich selbst als für Andere, meine Zuflucht sehr gern zu dem Grundsatz: What ever is, is right.

Auch Sie, mein angenehmer Freund, werden mich so nehmen; und unter dieser Voraussetzung will ich Ihnen alles bekennen, was nur von einigem Interesse für Sie seyn kann.[8]

Quelle:
Friederike Helene Unger: Bekenntnisse einer schönen Seele. Berlin 1806, S. 3-9.
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