III.

[84] Tso-cheu. – Tai-yen-fu. – Pin-yang-fu. – Der Gelbe Fluß. – Si-gnan-fu. – Szu-tchuan. – Ching-tu-fu. – Thibet. – Li-kiang-fu. – Carajan. – Yung-chang. – Mien. – Bengalen. – Annam. – Taï-ping. – Cintingui. – Sindi-fu. – Te-cheu. – Tsi-nan-fu. – Lin-tsin-cheu. – Lin-cing. – Mangi. – Yang-cheu-fu. – Küstenstädte. – Quin-say oder Hang-tcheu-fu. – Fo-kien.


Nach längerem Aufenthalte in Cambaluc wurde Marco Polo mit einer Sendung betraut, die ihn vier Monate lang von der Hauptstadt entfernt hielt. Etwa zehn Meilen südlich von Cambaluc überschritt er den prächtigen Strom Pe-ho-nor, von ihm selbst Pulisanghi genannt, auf einer schönen Marmorbrücke von vierundzwanzig Bogen und dreihundert Schritt Länge, welche auf der ganzen Erde nicht ihresgleichen hat. Dreißig Meilen weiter kam er nach Tso-cheu, eine sehr gewerbthätige Stadt, wo man besonders Santelholz bearbeitete. Zehn Tagereisen von Tso-cheu erreichte er die heutige Stadt Tai-yen-fu, die Hauptstadt von Schan-si, früher der Sitz jener unabhängigen Regierung. Das ganze Land erschien ihm reich an Weinstöcken und Maulbeerbäumen; die Hauptindustrie der Stadt bestand jener Zeit in der Anfertigung von Ausrüstungsgegenständen für Rechnung des Kaisers. Sieben Tagereisen von hier entfernt lag die hübsche Stadt[84] Pian-fu, das heutige Pin-yang-fu, mit lebhaftem Handel und vielen Seiden-Manufacturen. Nachdem Marco Polo diese Stadt besucht, langte er an den Ufern des berühmten Gelben Flusses an, den er Carnicoran oder Schwarzen Fluß nennt, wahrscheinlich wegen seines in Folge vieler Sumpfpflanzen dunkel erscheinenden Wassers; nach zwei weiteren Tagen erreichte er Cacian-fu, dessen Lage von sachkundigen Geographen nicht zweifellos hat ermittelt werden können.

Als Marco Polo diese Stadt, in der ihm nichts Bemerkenswerthes auffiel, verließ, ritt er durch eine schöne, wildreiche, mit Schlössern, Landhäusern und Gärten dicht besäete Gegend. Nach acht Tagen kam er in der vornehmen Stadt Quengianyfu an, der früheren Hauptstadt der Thang-Dynastie, d. i. in der heutigen Stadt Si-gnan-fu, der Hauptstadt von Shen-si. Hier führte die Regierung ein Sohn des Kaisers, Mangalai, ein sehr gerechter und bei den Unterthanen äußerst beliebter Fürst, der einen prächtigen Palast außerhalb der Stadt und in einem Parke bewohnte, dessen zinnengekrönte Mauer ihn in einem Umfange von fünf Meilen umschloß.

Von Si-gnan-fu begab sich der Reisende nach Thibet zu durch die jetzige Provinz Szu-tchuan, eine bergige, von großen Thälern durchschnittene Gegend, in welcher Löwen, Bären, Wolfshirsche, Damwild, Gemsen und Hirsche umherstreifen, und nach dreiundzwanzig Reisetagen befand er sich an der Grenze der ausgedehnten Ebene von Acmelec-Mangi. Diese Landschaft ist sehr fruchtbar; sie liefert allerlei Bodenerzeugnisse in Ueberfluß und vorzüglich Ingwer, mit dem sie die ganze Provinz Chatai versorgt. Die Ergiebigkeit des Bodens ist eine so große, daß der Hektar Land mit 24.000 Mark (12.000 fl.), der Quadratmeter also mit 24 Mark (1 fl. 20 kr.) bezahlt wird. Im 13. Jahrhundert war die ganze Ebene mit Schlössern und Landhäusern bedeckt und die Bewohner ernährten sich von dem Ertrage des Bodens und der Jagd auf wilde und eßbare Thiere, welche den Jägern eine reichliche und leicht zu erlangende Beute lieferte.

Marco Polo erreichte hierauf die Hauptstadt der Provinz Szu-tchnan Sindafu, das heutige Ching-tu-fu, dessen Bevölkerung in unserer Zeit die Zahl von fünfzehn Hunderttausenden überschreitet. Sindafu ist, bei einem Umfange von zwanzig Meilen, in drei, von je einer eigenen Mauer umschlossene Quartiere getheilt, deren jedes seinen König hatte, bevor sich Kublaï-Khan der Stadt bemächtigte. Durch dieselbe floß der wie ein See[85] breite, fischreiche und stets von unzähligen Fahrzeugen bedeckte Kiang-Strom. Nachdem er diese handelsthätige und gewerbreiche Stadt verlassen, erreichte Marco Polo nach fünftägiger Reise durch ungeheure Wälder die Provinz Thibet, welche er »auffallend öde« nennt, »denn sie war eben durch einen Krieg verwüstet«.

Thibet ist reich an Löwen, Bären und anderen Raubthieren, deren sich die Reisenden nur schwierig erwehren könnten, wenn dort nicht ein wunderbar starkes und langes Rohr, nämlich der Bambus, in wahrhaftem Ueberflusse wüchse. So benutzen denn »die Kaufleute und Reisenden, welche die Nacht in diesen Landschaften verbringen, jene Rohrstengel und unterhalten damit ein mächtiges Feuer, weil jene, wenn sie brennen, ein solches Geräusch und Krachen verursachen, daß Löwen, Bären und andere wilde Thiere erschrocken das Weite suchen und jenem Feuer um Alles in der Welt nicht zu nahe kommen; die Reisenden entzünden also dieses Feuer, nm ihre eigenen Nutzthiere gegen die in dem Lande sehr zahlreichen Raubthiere zu schützen. Der erwähnte Höllenlärm entsteht aber auf folgende Art und Weise: Man bricht jene Rohrstengel völlig grün und legt mehrere derselben in ein Holzfeuer; nach einiger Zeit ziehen sich dieselben krumm und springen dabei mit einem solchen Geräusch auf, daß es in der Nacht wohl auf zehn Meilen im Umkreise hörbar ist. So lang man sich noch nicht selbst daran gewöhnte, ist man ganz erstaunt darüber, so entsetzlich ist es anzuhören; Pferde z.B., die es noch niemals hörten, erschrecken so sehr, daß sie Stricke und Halfter zerreißen und entfliehen, was nicht gar so selten vorkommt: weiß man aber vorher, daß sie gegen jenes Geräusch noch nicht »abgehärtet« sind, so verdeckt man ihnen die Augen und fesselt alle vier Beine, so daß sie, wenn jener Höllenlärm anhebt, nicht davonlaufen können. Auf diese Weise entgehen die Menschen nebst ihren Thieren den gefährlichen Bestien, von denen es in diesem Lande wimmelt.« Das von Marco Polo beschriebene Verfahren wird noch jetzt in Bambus erzeugenden Gegenden angewendet, und in der That gleicht das Knacken und Knattern der vom Feuer verzehrten Rohrstengel dem heftigsten Raketenknallen bei einem Kunstfeuerwerke.

Nach dem Berichte des venetianischen Reisenden ist Thibet eine sehr große Provinz mit eigener Sprache, deren götzendienerische Bewohner als gefürchtete Diebe gelten. Ein sehr bedeutender Strom mit goldführendem Sande, der Khin-cha-kiang, durchzieht dieselbe. In ihm fischt man auch eine[86] große Menge Korallen, welche für Götzenbilder und als Frauenschmuck vielfache Verwendung finden. Thibet stand damals übrigens unter der Herrschaft des Groß-Khans.

Von Sandifu aus hatte Marco Polo eine westliche Richtung eingeschlagen. Er kam auf diesem Wege durch das Königreich Gaindu und wahrscheinlich nach Li-kiang-fu, der Hauptstadt jener Landschaft, welche heute das Gebiet von Si-mong darstellt. In genannter Provinz besuchte er einen herrlichen See, welcher Perlenmuscheln enthielt, deren Ausbeutung aber allein dem Kaiser vorbehalten war. Das Land hat Ueberfluß an Gewürznelken, Ingwer, Zimmet und anderen geschätzten Gewürzen.

Nach seinem Aufbruche aus Gaindu und nach Ueberschreitung eines großen Stromes, vielleicht des Irrauadi, drang Marco Polo, der sich nun genau nach Südosten wendete, in die Provinz Carajan ein, ein Gebiet, das wahrscheinlich den nordwestlichen Theil von Yun-nau bildet. Seiner Aussage nach sollen die Bewohner derselben, welche fast Alle beritten sind, das rohe Fleisch, der Hühner, Schafe, Büffel und Ochsen verzehren; diese Ernährungsweise träfe man ganz allgemein an, wobei höchstens die Reichen das rohe Fleisch ein wenig durch Knoblauchbrühe oder Zusatz von Gewürzen schmackhafter zu machen suchten. In diesem Lande gab es auch eine Menge großer Nattern und schrecklich anzuschauender Schlangen. Die betreffenden Reptilien – jedenfalls handelt es sich um Alligatoren – waren gegen zehn Schritte lang; sie besaßen zwei mit einer Kralle bewehrte Füße dicht hinter dem Hopfe, welcher selbst übermäßig groß war, so daß die Thiere einen Mann mit einem Male zu verschlingen vermochten.

Fünf Tagereisen westlich von Carajan, von welchem Punkte sich Marco Polo wieder nach Süden wendete, betrat er die Provinz Zadardan, deren Hauptstadt Nocian die heutige Stadt Yung-chang darstellt. Alle Bewohner derselben hatten goldene Zähne, d.h. es herrschte damals die Mode, die Zähne mit dünnen Goldplättchen zu belegen, welche abgenommen wurden, wenn man essen wollte. Die Männer in dieser Provinz, welche stets zu reiten pflegen, betreiben nur »Vogelsang, Jagd und Krieg«; die beschwerlicheren Arbeiten fallen den Frauen oder den Sklaven zu. Die Zadarnienser haben weder Götzenbilder noch Kirchen, sondern verehren nur den Aeltesten der Familie, gleichsam als Patriarchen. Aerzte giebt es bei ihnen ebenfalls nicht; an deren Stelle bedienen sie sich der Zauberer, welche vor einem[87] Kranken so lange springen, tanzen und gewisse Instrumente spielen, bis derselbe entweder stirbt oder wieder gesundet.

Von der Provinz der Menschen mit den Goldzähnen aus folgte Marco Polo zwei Tage lang der Landstraße, welche für den Verkehr zwischen Indien und Indo-China dient, und kam dabei durch Bama, wo dreimal wöchentlich ein bedeutender Markt abgehalten wird, der Kaufleute selbst aus[88] den fernsten Ländern herbeizieht. Nachdem er vierzehn Tage lang durch ungeheure Wälder mit vielen Elephanten, Nashörnern und anderen wilden Thieren geritten, kam er nach der großen Stadt Mien, d. h. nach dem Theile Ober-Birmas, dessen jetzige, in späterer Zeit erbaute Hauptstadt Amrapura heißt.


Eine schöne Marmorbrücke von vierundzwanzig Bogen. (S. 84.)
Eine schöne Marmorbrücke von vierundzwanzig Bogen. (S. 84.)

Diese Stadt Mien, vielleicht das alte, jetzt in Ruinen liegende Ava oder das alte Paghan am Irranadi, besaß ein wahres[89] Wunderwerk der Baukunst in Gestalt zweier Thürme, die von den schönsten Steinen errichtet und der eine mit fingerdicken Goldplatten, der andere mit ebenso starken Silberplatten bedeckt waren; beide dienten übrigens als Grabstätten der Könige von Mien, bevor das Königreich der Gewalt des Khans verfallen war.


Marco Polo in den Wäldern. (S. 86.)
Marco Polo in den Wäldern. (S. 86.)

Nach einem Besuche dieser Provinz ging Marco Polo herab bis Bengala, d. i. das jetzige Bengalen, welches jener Zeit, im Jahre 1290, Kublaï-Khan noch nicht angehörte. Die Heere des Kaisers bereiteten sich eben, dieses fruchtbare Land, dessen Reichthum an Baumwolle, Ingwer und Zuckerrohr bekannt war und dessen prächtige Rinder an Größe fast den Elephanten gleich kamen, für ihren Herrn zu erobern. Ferner wagte sich der Reisende noch hinab bis zur Stadt Cancigu, in der gleichnamigen Provinz, wahrscheinlich das heutige Kassay. Die Bewohner dieses Landstriches tätowirten ihren Körper und zeichneten mit Hilfe seiner Nadeln auf Gesicht und Hals, auf Leib, Hände und Beine die Bilder von Löwen, Drachen, Vögeln u. dgl. und hielten Denjenigen für den schönsten Menschen, der die meisten derartigen Malereien an seinem Körper trug.

Cancigu bezeichnet den südlichsten Punkt, den Marco Polo auf dieser Reise erreichte. Von hier aus kehrte er wieder nach Nordosten zurück und kam durch das Land Amu, entsprechend dem heutigen Anam und Ton-kin, wozu er vierzehn Tage brauchte, nach der Provinz Toloman, d. i. heute das Gouvernement Taï-ping. Daselbst traf er sehr schöne Menschen mit ziemlich dunkler Hautfarbe an, kräftige Kriegsleute, welche ihre Berge mit festen Schlössern gekrönt hatten, und deren gewöhnliche Nahrung aus Thierfleisch, Milch, Reis und Gewürzen bestand.

Von Toloman aus hielt sich Marco Polo zwölf Tage über längs eines mit zahlreichen Städten besetzten Flusses. Charton bemerkt hierbei ganz richtig, daß sich der Reisende nun von dem, unter dem Namen Indien jenseits des Ganges bekannten Lande entfernt und nach China hin zurückkehrt. Wirklich besuchte er auch von Toloman ans Guigui oder Cintingui und die gleichnamige Hauptstadt des Landes. Was Marco Polo in diesen Gegenden am meisten auffällt – er scheint nämlich ein eifriger Jäger gewesen zu sein – ist die große Anzahl von Löwen, welche die Ebenen und Berge unsicher machen. Doch herrscht zwischen den Sachverständigen volle Uebereinstimmung darin, daß Marco Polo's Löwen nur – Tiger gewesen sind, denn Löwen[90] kommen in China nicht vor. Sein Bericht lautet hierüber übrigens wie folgt: »In diesem Lande giebt es so viele Löwen, daß man nicht außerhalb des Hauses schlafen kann, ohne Gefahr zu laufen, aufgefressen zu werden. Selbst wenn man auf einem Strome fährt und in der Nacht irgendwo still liegt, muß man dafür sorgen, weit vom Ufer entfernt zu schlafen, denn sonst kommen die Löwen bis zum Schiffe heran, rauben sich einen Menschen und verzehren denselben. Die hiermit schon vertrauten Einwohner hüten sich deshalb sehr wohl. Jene Löwen sind sehr groß und äußerst gefährlich; höchst merkwürdig aber erscheint in dieser Gegend auch das Vorkommen von Hunden, welche den Muth haben, sogar Löwen anzugreifen, doch müssen ihrer immer Zwei sein, denn ein Mann und zwei Hunde werden auch mit einem großen Löwen fertig.«

Von dieser Provinz aus ging Marco Polo geraden Weges nach Sindifu, der Hauptstadt der Provinz Szu-thouan, zurück, von wo aus er zu seiner Mission nach Thibet aufgebrochen war, schlug nun den schon früher benutzten Weg ein und kehrte zu Kublaï-Khan zurück nach glücklicher Durchführung seiner Sendung nach Indo-China. Wahrscheinlich wurde Marco Polo vom Kaiser auch noch mit einer anderen Mission nach dem südöstlichen China betraut, d. i. wie Pauthier in seiner schönen Arbeit über den venetianischen Reisenden sagt, »die reichste und handelsthätigste Provinz des ungeheuren Reiches, von welcher man auch seit dem 16. Jahrhundert in Europa die meiste und eingehendste Kenntniß hat«.

Folgt man der auf Pauthier's Karte eingezeichneten Reiseroute, so begab sich Marco Polo, als er Cambaluc verließ, nach der südlicher gelegenen gewerbreichen Stadt Ciangli, wahrscheinlich Te-cheu, und sechs Tagereisen von da nach Condinfu, das heutige Tsi-nan-fu, die Hauptstadt der Provinz Chang-tung, in der Confucius geboren ward. Es war das damals nicht nur eine große, sondern auch die vornehmste Stadt in weiter Umgebung, nach welcher viele Seidenhändler zu kommen pflegten und deren wunderschöne Gärten große Mengen der herrlichsten Früchte lieferten. Drei Tagereisen von Condinfu langte Marco Polo bei der Stadt Lin-tsin-cheu, am Anfange des großen Yun-no-Kanales und an dem Sammelplatze unzähliger Fahrzeuge an, welche nach den Provinzen Mangi und Cathay erstaunliche Mengen der verschiedensten Waaren bringen. Acht Tage später passirte er Ligui, welches der heutigen Stadt Ling-cing zu entsprechen scheint, Pi-ceu, ein Handelsplatz der Provinz Tschiang-fu, ferner die Stadt Cingui, und kam dann bei[91] Caramoran an den Gelben Fluß, den er gelegentlich der Fahrt nach Judo China schon einmal in seinem oberen Laufe überschritten hatte. Hier befand sich der Reisende letzt kaum eine Meile entfernt von der Mündung jener größten und wichtigsten Pulsader Chinas. Mit Ueberschreitung des Stromes betrat Marco Polo die unter dem Namen des Reiches der Song bekannte Provinz Mangi.

Das Königreich Mangi stand, bevor es Kublaï-Khan gehörte, unter der Herrschaft eines sehr friedfertigen Königs, der die Greuel des Krieges verabscheute und an den Leiden Unglücklicher aufrichtig theilnahm. Wir lassen hier folgen, was Marco Polo über ihn sagt, und geben wegen der hübschen Abfassung seines Berichtes gleich den ursprünglichen Text desselben wieder: »Dieser letzte Kaiser der Song-Dynastie konnte wohl so große Ausgaben machen, daß sie an Verschwendung grenzten; ich will Euch hier zwei sehr edelmüthige Züge von ihm mittheilen: Jedes Jahr sorgte er für die Ernährung von 20.000 kleinen Kindern, denn die armen Weiber setzen ihre Kinder gleich nach der Geburt aus, wenn sie dieselben nicht ernähren können. Der König ließ Alle aufsammeln und eintragen, unter welchem Zeichen und welchem Planeten sie geboren waren, dann sorgte er dafür, daß sie an verschiedenen Orten aufgezogen wurden, denn Ammen fanden sich dazu in Menge. Besaß ein reicher Mann keinen Sohn, so wandte er sich an den König und ließ sich von demselben beliebig viele und diejenigen, welche er am liebsten nehmen wollte, schenken. Erreichten die Knaben und Mädchen dann das geeignete Alter, so verheirathete er sie mit einander und vermittelte ihren Lebensunterhalt; auf diese Weise erzog er jährlich 20.000 Kinder männlichen und weiblichen Geschlechts. Befand er sich auf der Straße und bemerkte er ein kleines Haus zwischen zwei großen, so fragte er, warum dasselbe nicht so groß sei wie die anderen; und erhielt er dann die Antwort, daß die Armuth des Besitzers es diesem nicht erlaube, es anders bauen zu lassen, so ließ er es eben so groß und schön herstellen wie die anderen. Des Königs tägliche Bedienung bestand aus tausend Edelknappen und Edelfräulein. Er hielt in seinem Reiche auf eine so strenge Rechtspflege, daß ein Verbrechen überhaupt gar nicht vorkam; selbst des Nachts blieben die Häuser der Kaufleute offen stehen, doch eignete sich kein Unbefugter daraus etwas an; auch konnte man in der Nacht ebenso sicher reisen wie am Tage.«[92]

In der Provinz Mangi traf Marco Polo auf die Stadt Coigangui, das heutige Hoaï-gnan-fu, am Ufer des Gelben Flusses, dessen Hauptindustrie in der Bereitung von Salz besteht, welches zahlreiche Salzmoräste liefern. Eine Tagereise von hier erreichte der Reisende, der einer mit sehr schönen Steinen gepflasterten Straße folgte, die wegen ihrer golddurchwirkten Tücher weitberühmte Stadt Pau-in-cheu, ferner Caiu, das heutige Kao-yu, dessen Einwohner sich als Fischer und Jäger auszeichnen, später die Stadt Tai-cheu, wohin die Schiffe in großer Anzahl kommen, und endlich die Stadt Yangui.

Dieses Yangui entspricht dem heutigem Yang-che-fu, dessen Gouverneur Marco Polo drei Jahre hindurch gewesen war. Es ist das eine volkreiche, betriebsame Handelsstadt von nicht weniger als zwei Meilen Umfang Von Yangui aus trat Marco Polo verschiedene Reisen an, durch welche er seine umfassenden Kenntnisse der Küsten- und Binnenstädte erlangte.

Zuerst wandte sich unser Reisender nach Westen, wo er zunächst die Stadt Nanghin – nicht zu verwechseln mit dem heutigen Nan-king, denn jene heißt jetzt Nyan-khing – erreichte, die in sehr fruchtbarer Gegend liegt. Derselben Richtung weiter folgend, kam Marco Polo nach Saian-fu, d. i. das jetzige Siang-yang, im nördlichen Theile der Provinz Hu-kuang, gleichzeitig die letzte Stadt von Mangi, welche der Herrschaft Kublaï-Khans noch Widerstand leistete. Monatelang belagerte der Kaiser den Ort vergeblich, dessen tapfer vertheidigte Befestigungen er nur mit Hilfe der drei Polo's erobern konnte, welche mächtige Wurfmaschinen herstellten und die Belagerten mit einem Hagel von Steinen überschütteten, deren einige bis dreihundert Pfund wogen.

Von Saian-fu kehrte Marco Polo auf demselben Wege zurück, um die Städte an der Küste zu bereisen; jedenfalls kam er dabei nochmals nach Yang-tcheu. Dabei besuchte er Singui (Kiu-kiang), an dem hier eine Meile breiten Kiang-Strome, der daselbst für 5000 Schiffe auf einmal Platz hat; Kain-gut, welches den größten Theil des Getreides für die kaiserliche Hofhaltung liefert, Cinghian-fu (Chingiam) mit zwei Kirchen für nestorianische Christen, Cinguigui, heute Tchang-tcheu-fu, eine belebte Handels- und Industriestadt, und Sungui, jetzt Su-tcheu oder Su-cheu, eine große Stadt von sechs Meilen im Umfang, die nach dem übertreibenden Berichte des venetianischen Reisenden damals nicht weniger als 6000 Brücken gehabt[93] Nach einem kurzen Aufenthalte in Vugui, wahrscheinlich Hu-tcheu-fu, und in Ciangan, dem jetzigen Kia-hing, erreichte Marco Polo nach dreitägiger Fahrt die angesehene Stadt Quisay Dieser Name bedeutet die »Stadt des Himmels«, während der Ort heutzutage Hang-tcheu-fu genannt wird. Er mißt sechs Meilen im Umkreise und wird von dem in unzählige Arme vertheilten Tsien-tang-kiang durchströmt, der eben dadurch Quisay zu einem zweiten Venedig macht. Diese alte Hauptstadt der Song ist fast ebenso stark bevölkert wie Pe-king, ihre Straßen sind mit glatten Steinen oder gebrannten Ziegeln gepflastert, »man zählt hier, nach Marco Polo, 600.000 Gebäude, 4000 Badeanstalten und 12.000 steinerne Brücken«. In dieser Stadt leben die reichsten Kaufleute der Erde mit ihren Frauen, welche »so schön sind wie die Engel«. Sie ist auch die Residenz des Vicekönigs, der im Namen des Kaisers mehr als hundertvierzig Städte regiert. Hier stand noch ein von schönen Gärten mit Seen und Wasserkünsten umgebener Palast der Beherrscher von Mangi, der mehr als tausend Zimmer umfaßte. Aus der Stadt und der zugehörigen Provinz bezieht der Groß-Khan unermeßliche Einkünfte, da sich allein die Abgaben von Salz, Zucker, Gewürzen und Seide – die Hauptproducte des Landes – auf viele Millionen Francs beziffern.

Eine Tagereise weiter nach Süden von Quisay besuchte Marco Polo, nachdem er eine reizende Gegend durchwandert, Tanpigui (Choa-ching-fu), ferner Vugui (Hu-tcheu), Ghengui (Kui-tcheu), Cianscian (Yen-tchen-fu nach Charton, Sui-tchang-fu nach Pauthier) und Cugni (Kiu-tcheu), die letzte Stadt des Vicekönigreiches von Quisay, dann trat er ein in das Königreich von Fugui, dessen damals gleichnamiger hervorragendster Ort das heutige Fu-chen-fu, die Hauptstadt der Provinz Fo-kien ist. Seinem Berichte nach wären die Bewohner dieses Landes grausame Kriegsleute, welche ihren Feinden niemals Pardon geben, sondern deren Blut trinken und ihr Fleisch verzehren. Nach Fortsetzung seiner Reise über Quenlifu (Kienning-fu) und Unguen gelangte Marco Polo nach der Hauptstadt Fugui, wahrscheinlich das heutige Kuang-tcheu, unser Canton, das bedeutenden Handel mit Perlen und Edelsteinen betreibt, und nach weiteren fünf Tagen nach dem Hafen von Zaitem, jedenfalls identisch mit der chinesischen Stadt Tsuen-tcheu, und damit nach dem äußersten Punkte des von ihm besuchten südöstlichen Chinas.[94]

Quelle:
Jules Verne: Die Entdeckung der Erde. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXIX–XXX, Wien, Pest, Leipzig 1881, S. 84-95.
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