Drittes Kapitel.

Worin die »Seamew« gänzlich stehen bleibt.

[268] Wären die Passagiere früh am andern Morgen auf das Spardeck gekommen, so hätten sie, zwar noch fern, die hohen Ufer von Gran Canaria sehen können. Hier sollte die »Seamew« den ersten Hafen der Inselgruppe anlaufen, und in Teneriffa den zweiten und gleichzeitig letzten auf der ganzen Reise.[268]

Der ganze Archipel der Kanarien besteht aus elf Inseln oder Eilanden, die in einem Halbkreise liegen, welcher sich nach Norden zu öffnet. Beginnt man am nordöstlichen Ende, um am nordwestlichen aufzuhören, so findet man nacheinander: Allegranza, Monte Clara, Graciosa, Lancerote, Lobos, Fuertaventura, La Gran Canaria, Teneriffa, Gomera, die Insel Ferro und Palma. Bewohnt von einer Bevölkerung, die ungefähr achtundzwanzigtausend Seelen zählen wird, umfassen diese Inseln, deren westlichste von Afrika nur durch einen hundert Kilometer breiten Meeresarm getrennt sind, zusammen ein Gebiet von siebentausendsechshundertvierundzwanzig Quadratkilometern.

Unter der Verwaltung eines in Santa-Cruz auf Teneriffa residierenden Kommandanten, und zweier Alcades mayores, bilden die Kanarien eine Provinz Spaniens, freilich eine recht abseits liegende, die wohl vorzüglich deshalb ein wenig vernachlässigt zu werden scheint. Hieraus erklärt sich gewiß auch die Geringfügigkeit des Handels dieses Archipels, der bei seiner geographischen Lage an der großen Route des Ozeans eigentlich einen sehr bedeutenden Fremdenbesuch aufweisen müßte.

Verschieden in der Gestalt, ähneln sich die Kanarien doch alle in der Wildheit ihres Aussehens. Alle sind sie von lotrecht abstürzenden Basaltmauern eingerahmt, denen noch ein schmales Uferland vorgelagert ist. Beim Anblick der eisernen Mauern erstaunt man wohl etwas über den Beinamen der »Glücklichen Inseln«, der ihnen vor alters trotz des unfreundlichen Aussehens gegeben wurde. Das Erstaunen verschwindet aber oder schlägt vielmehr ins Gegenteil um, wenn man weiter in ihr Inneres eindringt.

Alle sind vulkanischen Ursprungs und sozusagen nach demselben Muster gebildet. Fast immer erhebt sich nahe an ihrer Peripherie ein Gürtel von Vulkanen, die in der Mitte einen Hauptvulkan umrahmen. In diesen ausgebrannten Vulkanen aber, die durch ihre kreisförmigen Wände vor den ausdörrenden, von Afrika herwehenden Winden geschützt sind, in den Tälern zwischen ihren Gipfeln und in hohen Plateaus, die manche Gipfel krönen, erkennt man die Berechtigung des bezüglich seiner Richtigkeit angezweifelten Beinamens. Hier herrscht ein ewiger Frühling, hier schenkt die Natur dem Menschen ohne dessen Zutun bis drei jährliche Ernten.

Von den den Archipel bildenden Inseln ist Gran Canaria nicht die größte. Nur der von ihren ersten Bewohnern bewiesene Mut bei Gelegenheit des Überfalles durch Jean de Bethencourt hat ihr allein diesen Ehrennamen erworben.[269]

Und ist das nicht auch eine Art, »groß« zu sein, die mit jeder andern gleichwertig ist?

Die Agentur Thompson hatte ein gesundes Urteil damit bewiesen, daß sie diese zum Aufenthaltsort wählte. Gran Canaria ist gleichsam der Repräsentant der andern Inseln. Wenn es auch keine so majestätischen Gipfel aufzuweisen hat wie Teneriffa, nimmt es in dieser Hinsicht doch noch einen hervorragenden Rang ein und übertrifft dabei wenigstens alle übrigen. Es hat eine so schwer zugängliche Küste, daß die Fische nicht einmal daran laichen können, aber die bestgeschützten Täler, die tiefsten Erdsenkungen und überhaupt die größten natürlichen Eigentümlichkeiten. Dennoch hätte man der Agentur Thompson einen nicht unbegründeten Vorwurf machen können: um alle die interessanten Dinge zu sehen, die Gran Canaria zu bieten hat, um wenigstens eine Vorstellung davon zu bekommen, wäre es doch angezeigt gewesen, einen Ausflug ins Innere der Insel zu veranstalten und den bis ein Stück ins Land hinein auszudehnen. Einen solchen hatte die Agentur Thompson aber nicht in Aussicht genommen.

»Am 2. Juni Ankunft in Las Palmas um vier Uhr morgens. Um acht Uhr Besuch der Stadt. Abfahrt nach Teneriffa denselben Tag um Mitternacht.« Das war alles, was das Programm verkündigte.

Zwar erfolgte die Ankunft hier erst am 4. Juni, das war aber kein Grund, die Pläne der Agentur im Sinne einer Kosten verursachenden Zuvorkommenheit zu ändern... Im Gegenteil, ob am 2. oder am 4., es sollte und mußte noch an demselben Tage nach Teneriffa abgefahren werden. Desto schlimmer für die Passagiere, wenn sie von Gran Canaria fast nichts zu sehen bekamen.

Sie fügten sich dem aber leichten Herzens. Ihr stumpfsinniger Unmut hatte jedem die Kraft geraubt, seiner Unzufriedenheit Luft zu machen, und doch wäre es vielleicht gerade hier, wo die Agentur einmal auf ihren Versprechungen bestand, am Platze gewesen, ihr ernstlich entgegenzutreten. Übrigens waren alle gleichgültig und müde, und da noch denselben Tag weitergefahren werden sollte, so würde man eben »denselben Tag« abfahren. Hätte Thompson jetzt vorgeschlagen, den Aufenthalt hier auszudehnen, so würden sich die meisten Passagiere einer Verlängerung der Reise, die doch nur auf ihre eignen Kosten stattfinden konnte, entschieden widersetzt haben.

Gegen elf Uhr befand sich die »Seamew« der Hauptstadt Las Palmas – die Palmen – gegenüber. Nun hatte man Muße, sich diese zu betrachten.[270]

Das pfeifende, wimmernde Schiff bewegte sich jetzt kaum schneller vorwärts als eine treibende Boje.

Zum ersten Male seit der Abreise von London empfanden die Passagiere hier den Eindruck von etwas ganz Fremdartigem. Erbaut auf dem Landvorsprünge von Guiniguanda auf terrassenartig ansteigendem Terrain, hat die Stadt ein völlig orientalisches Aussehen. Ihre engen Gassen, ihre weißen Häuser mit flachen Dächern rechtfertigten in gewissem Maße den Namen »Kasbah«, womit Roger de Sorgues sie belegen zu müssen glaubte.

Gegen Mittag stoppte die »Seamew« endlich im Hafen von »La Luz« der von der Stadt gegen drei Kilometer entfernt ist.

Diese drei Kilometer mußten rückwärts zurückgelegt werden. Kaum hatte das Schiff festgemacht, als Thompson sich auch schon auf dem Kai aufstellte und seine Passagiere, je nachdem sie ans Land kamen, aufforderte, sich wieder zur Kolonne zu ordnen. Es war dasselbe Manöver, an das sich die eingereihten Touristen schon bei den ersten Führungen auf den Azoren gewöhnt hatten.

Doch wo blieb jetzt die schöne Disziplin von früher? Die sonst so gelehrigen Rekruten knurrten und murrten so hörbar, die Bildung der Glieder, wie Thompson sie wünschte, vollzog sich nur mit offenbarem Unwillen; die ganze Truppe lehnte sich dagegen auf. Die kaum gebildeten Glieder lösten sich wieder auf. Nach einviertelstündiger Anstrengung war es Thompson nur gelungen, ein Dutzend Getreue zusammenzuhalten, darunter den allezeit friedfertigen Piperboom – aus Rotterdam – und Mr. Absyrthus Blockhead, der seine gute Laune wiedergefunden hatte, seitdem von dem Alter seines Sohnes nicht mehr die Rede war.

Die meisten Touristen waren aber zurückgeblieben und widersetzten sich dichtgedrängt allen Anweisungen des General-Unternehmers.

»Ich bitte Sie, meine Herren, so hören Sie doch, redete der schon etwas ängstliche Thompson den Widerspenstigen zu.

– Schon gut, schon gut! antwortete barsch der trotzige Saunders, der sich eigenmächtig zum Sprachrohr seiner Gefährten machte, wir warten geduldig auf Wagen und Träger, die in Ihrem Programm versprochen sind.«

Und dabei fuchtelte Saunders mit dem gedruckten Blatte umher, wo diese trügerischen Versprechungen klar und deutlich zu lesen waren.

»Ich bitte Sie aber, meine Herren, wo soll ich die denn hernehmen? fragte Thompson kläglich.[271]

– Recht schön! erwiderte ihm Saunders mit schnarrender Stimme. Ich werde versuchen, allein einen Wagen zu finden.«

Damit zog er schon sein getreues Notizbuch aus der Tasche.

»Den miete ich aber natürlich auf Ihre Kosten. Das kommt mit auf die Rechnung, die wir in London ausgleichen werden, mein Herr, setzte er hinzu, indem er schon davonging und seinem Ingrimm weiter in heftigster Weise Luft machte.

– Ich folge Ihnen, lieber Herr Saunders, ich gehe mit Ihnen,« rief sofort Sir Georges Hamilton, dem sich auch Lady Hamilton und Miß Margaret ohne Zögern anschlossen.

Dieses Beispiel verführte auch noch andere, so daß sich wenige Augenblicke später zwei Drittel der Touristen von dem Reste ihrer Gefährten getrennt hatten.

Dicht bei dem Hafen von La Luz liegt eine kleine Stadt, die alle für die hier ankernden Schiffe notwendigen Bedürfnisse lieferte. Saunders würde gewiß bald finden, was er suchte. Gleich vor den nächsten Häusern hielten drei oder vier Wagen, so daß Saunders nur zu winken brauchte, sie heranzurufen.

Leider konnten diese vier Wagen nicht genügen. Als sie wie im Sturm bestiegen und davongerollt waren, mußten die meisten Dissidenten umkehren und bildeten so einen unerwarteten Nachschub für die Truppe des kommandierenden Generals.

Eben jetzt verließ Mrs. Lindsay, begleitet von ihrer Schwester und von Roger de Sorgues noch die »Seamew«. Als Thompson die Drei bemerkte, klatschte er in die Hände, um sie zur Eile zu mahnen.

»Bitte, meine Damen und Herren, rief er ihnen zu, wollen Sie gefälligst Platz nehmen. Die Zeit verstreicht, bedenken Sie das.«


Las Palmas.
Las Palmas.

Mrs. Lindsay war ja gewiß eine friedliebende Reisende und so verschieden von dem unangenehmen Saunders. Immerhin schien sie, sei es nun infolge einer Einflüsterung ihres Begleiters oder weil sie ja selbst die Reize einer so lächerlichen Promenade in Reih und Glied bis zum Überdruß gekostet hatte, den ihr nur indirekt gemachten Vorschlag nicht mit der gewohnten Liebenswürdigkeit aufzunehmen.

»Wie? murmelte sie, mit einem Blicke die staubige Straße ohne Häuser und Schatten musternd, das sollen wir zu Fuß machen?

– Ich würde sehr gerne bereit sein, Madame, erbot sich Morgan, Ihnen, wenn Sie es wünschten, in der Stadt einen Wagen zu besorgen.«[272]

Während er nun vorher den vielfachen Protesten und der separatistischen Bewegung gegenüber, die diesen folgte, gleichgültig geblieben war, weil er meinte, daß ihn diese nichts angingen, so legte er dagegen der Bemerkung der Mrs. Lindsay ein ganz andres Gewicht bei. Das zuvorkommende Anerbieten war seinen Lippen fast unwillkürlich entschlüpft. Er wurde aber auf der Stelle für seinen guten Gedanken belohnt. Ohne über die angebotne Hilfe viel Worte zu machen, nahm Mrs. Lindsay diese Liebenswürdigkeit wie als selbstverständlich an.

»Wenn Sie die Güte haben wollen,« sagte sie mit einem freundlichen Blicke auf den bereitwilligen Kommissionär.

Morgan wollte schon davoneilen, als er noch einmal zurückgerufen wurde.

»Da Sie einmal nach der Stadt gehen, Herr Professor, flötete Lady Heilbuth, würden Sie da nicht die Freundlichkeit haben, auch mir einen Wagen herzurufen?«

Trotz der höflichen Form dieses Gesuches konnte sich Morgan doch nicht des Gedankens entschlagen, daß Lady Heilbuth recht gut hätte ihren steifleinenen Diener nach einem Wagen schicken können, der wie gewöhnlich hinter ihr stand und einen augenblicklich zum Günstling avancierten Havaneser auf dem Arm trug. Er verbeugte sich jedoch respektvoll vor der bejahrten Dame und versicherte, ganz zu ihrer Verfügung zu stehen.

Seine Bereitwilligkeit sollte er aber sogleich büßen. Alle andern singen auf einmal an zu sprechen und mit lebhaften Handbewegungen gingen sie ihn an, ihnen denselben Dienst zu leisten, den er der Mrs. Lindsay angeboten und der Lady Heilbuth nicht verweigert hatte.

Morgan verzog ein wenig das Gesicht. Sich zum Kurier der Mrs. Lindsay zu machen, das war ja ein Vergnügen, den Auftrag der Lady Heilbuth auszuführen, mochte zur Not noch gehen, sich aber zum Frondienst für alle Welt gepreßt zu sehen, das änderte doch die Sache gewaltig. Er konnte das Verlangen der andern aber nicht gut abschlagen, und da kam ihm Roger de Sorgues mutig zu Hilfe.

»Ich gebe mit Ihnen, lieber Freund, rief er. Wir treiben alle Wagen auf, die es in der Stadt gibt.«

Das rief ein allgemeines Bravo hervor, während Morgan die Hand seines Landsmannes drückte, dessen Beweise von Zuneigung er gar nicht mehr zählen konnte.[275]

Die beiden Abgesandten liefen schnell dahin und hatten keine Mühe, sich eine hinreichende Menge Wagen zu verschaffen. In einem von diesen kehrten sie zurück, wobei sie auf halbem Wege Thompson an der Spitze einer schwachen, nur aus vierzehn Soldaten bestehenden Kolonne begegneten, die wahrscheinlich aus den Ärmsten oder den Geizigsten seines Regimentes bestand, das früher so zahlreich und wohlgemut mit ihm gegangen war.

Morgan schloß sich, seinem Begleiter die weitre Ausführung ihres Auftrages überlassend, der kläglichen Truppe an, wie er das für seine Pflicht hielt.

Es wäre übertrieben, zu sagen, daß er darüber besonders erfreut gewesen wäre. Da er aber alles in allem keine Wahl hatte, nahm er, freilich ohne Enthusiasmus, an der Seite Thompsons Platz und setzte sich mit ihm an die Spitze der Kolonne. An den ersten Häusern der Stadt angelangt, sollte er aber eine seltsame Überraschung erleben.

Dieselbe Überraschung empfand auch Thompson, als er einen Blick nach rückwärts geworfen hatte. Wo war denn die Kolonne hin? Zerflossen, verstreut, verschwunden. Jede Biegung einer Straße, jeder blühende Busch und jede schattige Baumgruppe hatte den Vorwand zu einer Desertion gegeben, und nach und nach waren die Touristen bis auf den letzten davongelaufen. Thompson hatte niemand mehr hinter sich, niemand außer dem monumentalen Van Piperboom – aus Rotterdam – der ruhig bei seinem Chef stehen geblieben war und geduldig der Entwicklung der Dinge harrte.

Morgan und Thompson tauschten einen der Ironie nicht entbehrenden Blick miteinander aus.

»Du lieber Gott, sagte Thompson endlich mit wiederzurückkehrendem Lächeln, da muß ich Ihnen, Herr Professor, doch wohl Ihre Freiheit wiedergeben. Ich selbst, ich bekümmre mich ja keinen Deut um Las Palmas; ich werde, wenn Sie es erlauben, mich einfach an Bord begeben.«

Thompson kehrte damit um und hartnäckig folgte ihm der unergründliche Holländer, der sich offenbar auch nicht für Las Palmas interessierte.

Morgan, der sehr froh über den Ausgang der Sache war, dachte noch über das seltsame Abenteuer nach, als er sich von einer lustigen Stimme angerufen hörte.

»Was zum Teufel machen Sie denn hier? Was ist denn aus Ihrem Regiment geworden? fragte Roger aus dem Wagen heraus, worin er den beiden Amerikanerinnen gegenübersaß.[276]

– Aus meinem Regiment? antwortete Morgan auf denselben Ton eingehend, ich wäre selbst begierig, von ihm etwas zu hören. Der Oberst hat sich an Bord zurückbegeben, in der Hoffnung, dort seine Soldaten zu finden.

– Da wird er vielleicht nur den unbezahlbaren Johnson antreffen, sagte Roger de Sorgues lächelnd, da dieses Original sich darauf versteift, niemals das Land zu betreten. Doch Sie, was machen Sie denn?

– Absolut nichts, wie Sie sehen.

– Nun, schloß Roger das kurze Gespräch, indem er ihm an seiner Seite Platz machte, dann kommen Sie mit uns. Sie werden uns zum Führer dienen, Herr Professor.«

Der Rio von Guiniguanda trennt Las Palmas in zwei ungleiche Teile: in die hohe Stadt, die nur von Vornehmen und Beamten bewohnt wird, und die niedrige Stadt, das eigentliche Handelsquartier, das am Vorgebirge im Westen endigt, an dessen Spitze sich das Festungswerk des Castillo del Rey erhebt.

Drei Stunden lang durchstreiften die vier Touristen, teils zu Fuß, teils im Wagen, die Straßen der Hauptstadt, und als sie dessen müde waren, ließen sie sich nach der »Seamew« zurückbefördern, und wer sie jetzt gefragt hätte, dem würden sie geantwortet haben:

»Las Palmas ist eine recht gut gebaute Stadt mit schmalen, schattenreichen Straßen, wo aber die Bodengestaltung eine Promenade zu einem fortwährenden Auf- und Absteigen macht. Außer der Hauptkirche im Stile spanischer Renaissance hat sie wenig interessante Bauwerke aufzuweisen. Was das maurische Aussehen der Stadt vom Meere aus betrifft, so erweckt das nur unerfüllte Hoffnungen. In der Nähe verblaßt dieser Reiz, man kann sich kaum etwas weniger Maurisches vorstellen als ihre Straßen, ihre Häuser und ihre Einwohner, die der Bewunderung der Fremden nur eine ausschließlich europäische, mehr französische Eleganz zu bieten haben.«

Darauf beschränkten sich also die Reiseeindrücke. Wie hätte es auch anders sein können? Hatten die Reisenden denn mit diesem Volk gelebt, um die Höflichkeit und Zuvorkommenheit schätzen zu können, die, mit außerordentlicher Lebhaftigkeit gemischt, das Messer so leicht aus der Scheide fliegen lassen? Waren sie in die Häuser mit den tadellosen Fassaden gekommen, die nur lächerlich kleine Räume enthalten, während darin aller Platz dem Salon vorbehalten ist, der eine Größe zeigt, die mit den ähnlichen Räumen auf den Kanarien wetteifern kann? Konnten sie die Seele dieser Leute durchschauen, in der sich der Stolz[277] ihres Ahnen, des Hidalgo, mit dem naiven Hochmute des Guanche, eines abgeleugneten Ahnen, mischt?

Hierin liegt überhaupt der Nachteil der zu schnellen Reisen. Der viel zu komplizierte Mensch bleibt dabei außer Betracht, nur die Natur läßt sich mit einem Blicke erfassen.

Man muß freilich auch Muße haben, sie zu betrachten, und in dem Programm der Agentur Thompson war das nicht vorgesehen.

Die nur oberflächlichen Eindrücke, die die Touristen von ihrer Promenade durch Las Palmas gewonnen hatten, gingen Morgan auch noch ab. Er hatte den in Gesellschaft der Mrs. Lindsay verlebten Nachmittag überhaupt... nichts gesehen. Seine Augen bewahrten nur ein Bild, das der jungen Frau, wie sie in den Straßen bergauf oder bergab schritt und mit gewinnender Einfachheit ihn fragte oder ihm antwortete.

Da hatte er seine Entschlüsse vergessen und sich ganz dem Glücke des Augenblicks hingegeben.

Kaum aber hatte er das Deck der »Seamew« wieder betreten, als ihn die einen Augenblick zerstreuten Sorgen wieder überfielen. Warum sollte er sich mit Bewußtsein verstellen, warum sich auf einen Weg begeben, dem er doch nicht bis ans Ende zu folgen gewillt war? Der heutige glückliche Nachmittag hatte in ihm nur das bittere Gefühl zurückgelassen, seine ernsten Gefühle wohl nicht genügend verborgen zu haben. Und wenn er sich nur durch irgendeinen Blick oder eine Geste verraten haben sollte, was mußte die reiche Amerikanerin von ihm, dem armen Teufel, wohl denken!

Wenn er sich das vorstellte, errötete er vor Scham und gelobte, sich in Zukunft besser in acht zu nehmen, selbst wenn er dadurch die schon gewonnene freundschaftliche Anteilnahme der Mrs. Lindsay wie der verlieren sollte. Das Schicksal hatte jedoch bestimmt, daß seine edelmütige Entschlossenheit erst eine Probe aushalten sollte. Seine Geschichte war da oben geschrieben, und die Kette der Ereignisse machte sie unabwendbar zur Wirklichkeit.

In dem Augenblicke, wo die Touristen an Bord kamen, waren Thompson und Kapitän Pip in einem lebhaften Gespräch begriffen. Offenbar handelte es sich dabei um eine ernste Angelegenheit. Hochrot und fieberhaft erregt, erging sich Thompson seiner Gewohnheit gemäß in den tollsten Gesten. Der sehr ruhig bleibende Kapitän dagegen antwortete ihm mit kurzen Worten oder nur mit einer energischen Handbewegung, die deutlich erkennen ließ, daß sie das ablehnte,[278] was der Agent zu ihm sagte. Aufmerksam geworden, blieben Mrs. Lindsay und ihr Begleiter wenige Schritte von den beiden Herren stehen. Sie waren übrigens nicht die einzigen, die sich für diese Debatte interessierten. Auf dem Spardecke hatten sich die andern, schon eher zurückgekommenen Passagiere in drei Reihen zusammengedrängt und verfolgten gespannt den Verlauf des Gespräches.

Ein Umstand, der die allgemeine Neugierde noch weiter erregte, lag darin, daß aus dem Schornstein der »Seamew« nicht der geringste Rauch hervorwirbelte, nichts schien für die doch auf Mitternacht festgesetzte Abreise vorbereitet zu sein. Man verlor sich in Vermutungen aller Art und wartete voll Ungeduld, daß die Unterredung zwischen dem Kapitän und Thompson ein Ende nehmen sollte, um von dem einen oder dem andern einigen Aufschluß zu erhalten.

Schon rief die Glocke zum Essen, als das Gespräch noch immer fortdauerte. Schnell nahmen die Passagiere ihre gewohnten Plätze ein. Während der Tafel würde ja das Rätsel gelöst werden.

Die Mahlzeit nahm jedoch ihren Fortgang und ging zu Ende, ohne daß Thompson sich bemüßigt gefühlt hätte, die Neugierde der Tischgäste zu befriedigen. Diese Neugierde schwächte sich jedoch, momentan durch eine näherliegende Sache verdrängt, schnell etwas ab.

Die Verpflegung an Bord hatte sich ungemein verschlechtert, und zwar von Tag zu Tag mehr. Dadurch ermutigt, daß er dabei straflos ausging, hatte Thompson offenbar geglaubt, sich rein alles erlauben zu dürfen. Heute überschritt das aber alle Grenzen. Das einer richtigen Sudelküche würdige Diner war noch obendrein unzureichend. Der Appetit der Tischgäste war kaum erwacht, als schon der Nachtisch aufgetragen wurde.

Alle sahen einander und dann Thompson an, der sich ganz behaglich zu fühlen schien. Noch hatte niemand gewagt, sich zu beklagen, als Saunders seiner Gewohnheit gemäß gleich mit der Tür ins Haus fiel.

»Steward! rief er mit rauher Stimme.

– Mein Herr...? antwortete Mister Roastbeaf herzueilend.

– Steward, ich möchte noch etwas von dem abscheulichen Hühnchen haben. Wenn man's richtig bedenkt, ist es immer besser, durch Gift als durch Hunger zu sterben.«

Mr. Roastbeaf schien das attische Salz in dem Scherze nicht zu verstehen.

»Davon ist nichts mehr übrig, mein Herr, antwortete er ruhig.[279]

– Desto besser, rief Saunders, dann bringen Sie mir etwas andres, schlechter kann das ja doch nicht sein.

– Was andres, mein Herr! fuhr Mr. Roastbeaf vor Erstaunen auf. Sie wissen wohl nicht, daß an Bord nicht mehr so viel vorhanden ist, einen hohlen Zahn damit zu füllen. Die Herren Passagiere haben sogar nichts für das Küchenpersonal übrig gelassen.«

Mit welcher Bitterkeit hatte Roastbeaf diese Worte ausgesprochen.

»Hören Sie, mein Herr Roastbeaf, Sie wollen wohl gar meiner spotten? fragte Saunders mit drohender Stimme.

– Ich, mein Herr? stammelte Roastbeaf.

– Nun ja, was bedeutet dieser Scherz denn sonst? Sind wir hier vielleicht auf dem Floß der Medusa?«

Roastbeaf breitete, als Zeichen, daß er das nicht wisse, die Arme aus. Seine Geste lehnte jede Verantwortlichkeit ab und wälzte sie vollständig auf Thompson, der sich zerstreut in den Zähnen stocherte. Gereizt durch dieses Benehmen, schlug Saunders auf die Tafel, daß alle Gläser in die Höhe sprangen.

»Ja, ich rede mit Ihnen, mein Herr, rief er erzürnten Tones.

– Mit mir, Herr Saunders? antwortete Thompson, der den Naiven spielte.

– Jawohl, mit Ihnen. Haben Sie geschworen, uns vor Hunger umkommen zu lassen? Ist es wahr, daß das das einzige Mittel wäre, unsre Klagen zu ersticken?«

Thompson rieß erstaunt die Augen auf.

»Es sind nun schon drei Tage, fuhr Saunders zornig fort, daß unser Essen für den Hund eines Bettlers unwürdig wäre. Wir haben bisher noch Geduld gehabt. Heute aber ist es denn doch zu stark, ich appelliere an alle Anwesenden.«

Die Interpellation des aufgeregten Saunders erzielte einen Erfolg, den die Journale in einem Parlamentsberichte als »lebhafteste Zustimmung« und als »frenetischen Beifall« qualifiziert hätten. Jetzt singen alle an zu sprechen. Lärmend fielen alle Tischgäste ein: »Ganz richtig!« – »Sie haben völlig recht,« so kreuzten sich die Zurufe, und fünf Minuten herrschte ein furchtbarer Lärm.

Inmitten dieses Getöses lachte Roger aus vollem Halse. Diese Reise wurde ja unwiderstehlich komisch. Alice, Dolly und Morgan teilten die Heiterkeit des lustigen Offiziers. Keines von ihnen hätte auf diese schlechte, aber amüsante Mahlzeit verzichten mögen.


Wo war denn die Kolonne hin? (S. 276)
Wo war denn die Kolonne hin? (S. 276)

Ohne sich irgendwelche Erregung anmerken zu lassen, bemühte sich Thompson nur, einigermaßen die Ruhe wieder herzustellen. Vielleicht hatte er dafür einen guten Grund.

»Ich erkenne ja an, sagte er, als es einigermaßen still geworden war, daß die heutige Mahlzeit etwas weniger gut gewesen ist als die vorhergegangenen...«

Ein Zetergeschrei schnitt ihm das Wort ab.

»... als die vorhergegangenen, wiederholte Thompson ruhig; die Agentur ist daran aber völlig unschuldig, und Herr Saunders wird seine Kritik bereuen, wenn er erst die Wahrheit erfahren hat.

– Worte, nichts als Worte! entgegnete Saunders brutal. Mit solcher Münze lasse ich mich nicht bezahlen. Ich brauche eine andre, setzte er hinzu, während er das unvermeidliche Büchlein aus der Tasche holte, eine andre, die ich kraft dieses Notizbuches in London schon bekommen werde, dieses Buches, worin ich vor Zeugen jeden Schimpf aufgezeichnet habe, der uns angetan worden ist.

– Die Herren mögen nur bedenken, fuhr Thompson fort, ohne diese Zwischenrede zu beachten, daß die Leste, von der mir schon in Madeira heimgesucht wurden, sich auch hier fühlbar macht, wegen der geographischen Lage dieser Inseln und der größern Nähe Afrikas aber in noch stärkerem Maße. Um dem Unglück die Krone aufzusetzen, hat die Leste vom Festlande her auch noch eine Wolke von Heuschrecken mit hierher verschlagen. Dieser Überfall, er ist im allgemeinen hier ein seltnes Ereignis, war gerade zur Zeit unsrer Ankunft erfolgt. Die beiden Geißeln haben nun alles verbrannt, geplündert, alles vernichtet. Wenn sich die Agentur bezüglich der Lebensmittel etwas geizig gezeigt hat, liegt das nur daran, daß in Gran Canaria jetzt wirklich Mangel ist.

– Seien Sie doch ehrlich! rief der für alles unzugängliche Saunders. Sagen Sie einfach, daran, daß sie etwas teurer geworden sind.

– Ist denn das nicht dasselbe?« fragte Thompson unbefangen, der damit bis auf den Grund seiner Seele blicken ließ.

Diese Naivität wirkte auf die Passagiere geradezu verblüffend.

»Ja freilich, Ihrer Ansicht nach, gab ihm Saunders zurück. Doch das wird sich ja in London alles finden. Inzwischen bleibt nur eins zu tun: wir müssen auf der Stelle abfahren. Da man auf Gran Canaria nichts zum Mittagessen haben kann, wollen wir auf Teneriffa zu Abend speisen.[283]

– Bravo!« ertönte es von allen Seiten.

Thompson bat mit einer Handbewegung um Ruhe.

»Darauf, meine Herren, sagte er, wird Ihnen unser wackrer Kapitän antworten.

– Ja, und der antwortet nur, daß das nicht möglich ist, so leid es ihm selbst tut, erklärte der Kapitän Pip. Die Maschine bedarf eben einer gründlichen Reinigung, alle Stoffbüchsen und Scharniere müssen ausgebessert werden, und wenn diese Arbeit gleich heute in Angriff genommen wird, verlangt sie doch mindestens drei Tage. Vor dem 7. Juni gegen Mittag können wir La Luz schwerlich verlassen.«

Die Mitteilung des Kapitäns hatte alle zu Eis erstarren lassen. Die Tischgäste wechselten bestürzte Blicke miteinander. Noch drei Tage hier bleiben zu müssen, ohne die Abwechslung eines Ausflugs oder nur eines einfachen Spazierganges.

»Und bei einer solchen Nahrung, bei solchem Futter, hätte ich bald gesagt!« ließ sich der wütende Saunders vernehmen.

Bald machte die Niedergeschlagenheit dem vollen Zorne Platz. War es denn zulässig, daß die Agentur Thompson mit ihren Subskribenten so mir nichts dir nichts umsprang? Ein drohendes Gemurmel lief durch die Menge der Passagiere, als sie die Tafel verließen und nach dem Spardeck hinaufstiegen.

Da fuhr gerade ein großer Dampfer in den Hafen ein. Es war eines der regelmäßigen Paketboote, die den Dienst zwischen England und der Kapkolonie versehen, und befand sich jetzt auf der Heimreise nach London. Das wurde sofort auf der »Seamew« bekannt.

Fünf oder sechs Passagiere ergriffen die sich unerwartet darbietende Gelegenheit und schifften sich mit ihrem Gepäck aus. Unter denen, die die Sache hier satt hatten, befand sich auch Lady Heilbuth nebst ihrer geliebten Meute.

Thompson bewahrte den Anschein, das gar nicht zu bemerken. Sehr zahlreich waren die Flüchtlinge ja auch nicht. Schon aus ökonomischen Gründen blieb die große Mehrheit der »Seamew« treu. Zu diesen Getreuen gehörte Saunders, obwohl bei ihm die Geldfrage nicht im Spiel war. Thompson von seinen Verpflichtungen entbinden? Nimmermehr. Nein, er würde sich an ihn hängen und haften bleiben bis zum Ende. War es wohl Haß, der das Herz des nie zu befriedigenden Passagiers erfüllte?[284]

Alle hatten aber nicht die ohne Zweifel vortrefflichen Gründe des widerhaarigen Saunders, oder z. B. Mrs. Lindsay, die noch besseren der Leute von mäßigem Vermögen. Warum blieb diese aber dabei, die an Unannehmlichkeiten aller Art so reiche Reise bis zum Ende mitzumachen? Welches Motiv konnte sie unter der Verwaltung der Agentur Thompson zurückhalten? Das waren die Fragen, die sich Morgan, der, einige Schritte von Alice, die schöne Witwe im Dunkeln ansehend, mit einiger Beklemmung vorlegte.

Mrs. Lindsay sagte aber kein Wort. Sie hatte das große Paketboot vorüberfahren sehen, ohne es sonderlich zu beachten. Nein, davonreisen wollte sie nicht Morgan bekam den Beweis dafür, als er sie zu Roger sagen hörte:

»Wir werden doch diese zwei Tage nicht hier auf dem Schiffe bleiben?

– Natürlich nicht, antwortete Roger noch lachend.

– Die Verzögerung, fuhr Alice fort, wird dann wenigstens das Gute haben, daß wir ein wenig vom Lande selbst kennen lernen, wenn Sie wie ich gewillt sind, diese Frist zu einem Ausfluge zu benutzen.

– Mit Vergnügen, versicherte Roger. Herr Morgan und ich, wir können noch heute Abend versuchen, die nötigen Transportmittel zu bestellen. Wir wären also unser fünf?«

Morgan erwartete so etwas. Er gedachte seine Teilnahme aber abzulehnen, mochte ihm das auch einen heimlichen Schmerz bereiten; dennoch wollte er sich der kleinen Karawane nicht anschließen und unbedingt auf seinem Platze ausharren.

»Erlauben Sie... begann er zögernd.

– Nein, nur vier, unterbrach ihn Alice ruhig. Mein Schwager wird nicht dabei sein.«

Morgan fühlte, wie sein Herz lebhafter klopfte. Es war also doch Mrs. Lindsay, die über seine Mitanwesenheit entschied, ihm seine Rolle zuwies, und die es wollte, daß er an ihrer Seite blieb.

Das Vergnügen überwand seine Skrupel, tausend Gedanken stiegen in ihm auf.

Er ließ seinen Einwand unvollendet, atmete erleichtert die kühle Abendluft und richtete die Augen zum Himmel empor, an dem ihm die Sterne heller zu funkeln schienen.[285]

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 268-273,275-281,283-286.
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