22. An Selma

[190] Umgearbeitet 1785.


Du jungfräulicher Geist, gleich den Vollendeten

Schon im Staube verklärt: schmachtet umsonst mein Blick,

Deiner Herrlichkeit Abglanz,

Jene Blütengestalt, zu schaun?


Ach! so ward mir zur Qual dieses phantastische

Herz, das geniuskühn Zaubergebilde schafft,

Dann in nichtiger Sehnsucht

Nach dem fliehenden Traume strebt!
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Traum? Den göttlichen Traum bildet' ihr Seraph mir!

Ihren ahndenden Wunsch hüllt' er in Morgenglanz,

Bracht' in Düften des Schlummers

Dann die heilige Bildung mir!


Uns, zur Liebe geweiht, ach! zu der innigsten

Seelenliebe geweiht: warum bestrahlt der Mond,

Still die Wolken durchwandelnd,

Uns durch Hügel und Thal getrennt?


Oft beseeltest du uns, Liebe; doch unerkannt

Schien dein Odem uns bald säuselnder Frühlingshauch,

Bald ein Nachtigallseufzer,

Bald Erfrischung der Sommernacht.


Liebend pflückten wir oft tauige Rosen uns,

Oft Violen zum Strauß, schwebten in Blütenduft

Mit Gesang, wie die Vögel

Durch den schimmernden Äther, hin.


Liebend hörten wir oft murmeln den Erlenbach,

Sahn aufsteigen den Mond, schwinden das Abendrot,

Voll süßschwärmender Wehmut,

Dachten Tod und Unsterblichkeit.


Schon im himmlischen Thal, wo wir, noch Seelen nur,

Träumten, spielten wir stets unter demselben Strauch,

Pflückten einerlei Blumen,

Horchten einerlei Harmonieen.


Ach! wann dämmerst du einst? Eile, geflügelter!

Selma seufzet dir auch! Eile, du Wonnetag,

Der zu meiner Geliebten

Über Hügel und Thal mich führt!


Selma, wenn dir alsdann schnelle Vergessenheit

Deiner leichteren Tracht, wenn dir der Wangen Glut,

Und des klopfenden Herzens

Ahndung sagte, daß ich es sei!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 49, Stuttgart [o.J.], S. 190-191.
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