43. Die Spinnerin

[287] Sommer 1791.


Ich saß und spann vor meiner Thür:

Da kam ein junger Mann gegangen.

Sein braunes Auge lachte mir,

Und röter glühten seine Wangen.

Ich sah vom Rocken auf, und sann,

Und saß verschämt, und spann und spann


Gar freundlich bot er guten Tag,

Und trat mit holder Scheu mir näher.

Mir ward so angst; der Faden brach;[287]

Das Herz im Busen schlug mir höher.

Betroffen knüpft' ich wieder an,

Und saß verschämt, und spann und spann.


Liebkosend drückt' er mir die Hand,

Und schwur, daß keine Hand ihr gleiche,

Die schönste nicht im ganzen Land,

An Schwanenweiß' und Ründ' und Weiche.

Wie sehr dies Lob mein Herz gewann;

Ich saß verschämt, und spann und spann.


Er lehnt' auf meinen Stuhl den Arm,

Und rühmte sehr das feine Fädchen.

Sein naher Mund, so rot und warm,

Wie zärtlich haucht' er: Süßes Mädchen!

Wie blickte mich sein Auge an!

Ich saß verschämt, und spann und spann.


Indes an meiner Wange her

Sein schönes Angesicht sich bückte,

Begegnet' ihm von ohngefähr

Mein Haupt, das sanft im Spinnen nickte;

Da küßte mich der schöne Mann.

Ich saß verschämt, und spann und spann.


Mit großem Ernst verwies ich's ihm;

Doch ward er kühner stets und freier,

Umarmte mich voll Ungestüm,

Und küßte mich so rot wie Feuer.

O sagt mir, Schwestern, sagt mir an:

War's möglich, daß ich weiter spann?


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 49, Stuttgart [o.J.], S. 287-288.
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