56. Der Geist Gottes

[307] 12. Dezember 1794.


Was lauschest du, o Volk der Alemannen,

Den Rufern: »Hier, hier webet Gottes Geist,

Der Ulm' und Eich' entwurzelt, und die Tannen

Mit Donnerhall vom Felsabhange reißt!«

Du hörst sein Wehn; doch weißt du nicht, von wannen,

Und nicht, wohin der Strom des Windes fleußt.

Mit linder Macht der Menschheit Knosp' entfaltend,

Fährt Gottes Geist, umbildend und gestaltend.
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Oft leis anschwellend, oft unangekündet,

Durchwallt sein Segenshauch die öde Flur:

Gesang und Red' entspringt dem Schlaf, und windet

Den schönen Kranz der Menschheit und Natur.

Urkraft, Verhalt und Zweck, tief ausgegründet,

Umschlingt der Anmut leichtgeknüpfte Schnur.

Viel angestaunt, von wenigen bewundert,

Erscheint dem Volk sein goldenes Jahrhundert.


Es starrt die Meng' in dumpfiger Erkaltung,

Wie wenn der Geist auch atmet, und wie mild.

Erschlaffung däucht des Menschensinns Entfaltung;

Man wähnt Natur, was roh sich hebt und wild.

Dem eitler Tand, dem schnöde Mißgestaltung,

Erscheint der Anmut reizendes Gebild.

Die heiligen Begeisterungen funkeln

Der Nachwelt erst, wie helle Stern' im Dunkeln.


Mir nachschaun wirst du dort im Felsenspalte:

So sprach der Geist: verhülle dein Gesicht!

Schnell braust' ein Sturm, Erdbeben kracht', es hallte

Der Donnerstrahl, doch Gottes Geist war's nicht.

In sanft durchschauerndem Gesäusel wallte

Der Geist einher: der Seher trat ans Licht,

Und sah, wie fern die Herrlichkeit entschwebend

Verschimmerte; stumm sah er nach, und bebend.


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 49, Stuttgart [o.J.], S. 307-308.
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