Phaethon an Atalanta

[228] Atalanta, Du Liebe, Gute, laß mich zurückgehn in die Tage der Wonne!

Die Seelen aller Menschen haben einst das Heilige, das Wahre, das Wesentliche gesehen in seiner Göttlichkeit.

Auch wir schwebten einst mit der Gottheit in der Höhe; wir waren in ihr, eins mit ihr, lenkten mit ihr das unermeßliche All.

Aber es schwanden uns die Flügel. Wir sanken tiefer und immer tiefer durch die Schöpfung, und fielen auf unsere Erde. Da wand sich der Körper um uns, die unsterblichen Seelen; eine kurze, bald welkende Hülle schloß sich um unser unvergängliches Wesen.

Atalanta, wir liebten einst das Schöne, das Gute, ganz wie es ist, göttlich und übermenschlich. Wie ein belebender Saft quoll es stärkend und kräftigend durch unser Innerstes und tränkte die wachsenden Flügelkeime. Aber wir liebten das Böse und fielen![229]

Ach, das eine Roß, das meine Seele lenkt an ihrem Wagen, will wohl hinan, will über den Kreis des Himmels, will zur Anschauung der Gottheit; aber das andere hält mich schnaubend an der Erde. Ich ringe, kämpfe; aber die Schwungkraft meiner Flügel ist gelähmt.

Einst schwammen, webten und wirkten wir in Gott und sahen die Schönheit wie trunkne Eingeweihte, im Wogen und Wallen ihres lauteren Lichtes. Nun wandeln wir, in einen Körper gehüllt, wir göttlichen Wesen, getrennt von unserer Mutter, der Gottheit, ewig uns sehnend nach ihr, auf einem Wandersterne, den wir einst kaum kannten als bleichdämmerndes Lichtbild. So klein war er uns im Anschaun der Gottheit!

So kamen wir auf die Erde. Du wardst in Griechenland in einen Körper gehüllt, und ich im rauhern Norden. Wir kannten uns nicht, wenn wir schon einst zusammenwebten in Gott.

Wir sahen uns; wir küßten uns wie zwei bebende glühende Strahlen, entflossen aus einem Urlicht der Sonne.

Wir fühlten uns leichter und freier in unserer Körperhülle. Mächtiger und gewaltiger wuchsen die Federn aus ihren Wurzeln.

Wir sahen uns, strebten, glühten, uns zu einen, ganz ineinander zu fließen. Dein Angesicht, Du Göttliche, war mir der reine seelenvolle Abdruck der körperlosen Schöne.

Gestillt war unser Schmachten, unser Sehnen. Wir liebten; wir hatten gefunden, was wir bewußtlos[230] suchten. Die Urschönheit bebte wie klares quillendes Mondlicht durchs Nebeldunkel unsers Innern. Wie das verschwebende Säuseln der Linde klang die alte liebende Stimme der Erinnerung.

Wir brachten einander näher der Gottheit durch Liebe, durch unaussprechliche Liebe.

O Atalanta, was taten wir nicht füreinander!

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 228-231.
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