Die fünfte Fabel.

Vom Geizigen und Neidigen.

[154] Ein geizig und ein neidiger

Baten zugleich den Jupiter,

Daß er in wolt nach irem willen

Gnediglich ire bitt erfüllen

Und jedem einen Wunsch verleihen,

Denselben im laßen gedeihen.

Jupiter schickt den gott Apollo,

Des warn die beiden bitter fro,

Sprach: »Jupiter wil eure bitt

Auch unerhöret laßen nit:

Drumb wünscht, was euer herz begert,

Des solt ir werden jetzt gewert

Mit dem beding, nun merket mich,

Daß, was ein jeder wünscht für sich

Zu seinem eigen nutz und frommen,

Das sol dem andern zwifach kommen.«

Der geizig sich da lang bedacht,

Wie er den wunsch zum besten macht,

Zehen tausent gülden wünschen tet,

Bald sie der ander zwifach het.

Da ward der neidig fro von herzen

Und sprach: »Ich sihe, es ist kein scherzen

Mit disem wunsch; ich muß auch welen,

Nit lenger meinen wunsch verhelen«,

Und wünscht aus rechtem neid daher,

Daß im selber ein aug aus wer.

Da fiel im aus ein aug geschwind:

Der geizig ward an beiden blind.

Mit neid der neidig tet verschulden,

Daß im der geizig wünscht vil gülden.

Zwei schendlich laster geiz und neid,

Und sind zu meiden allezeit.[155]

Wer kan den geizigen erfüllen

Oder im den gelthunger stillen?

Je mer er hat, je mer begert,

Doch füllt in zletst ein hand voll erd,

Damit sich muß zu frieden geben;

Denn hilft in nit diß geizig leben.

Noch ists ein vil schedlicher gast,

Der sein nehsten vergebens haßt,

Im selber oftmals schaden tut,

Daß er seinen neidigen mut

An einem andern rechen müg

Und im aus haß schaden zufüg.

Doch wie die gmeinen leuft uns lern,

Trifft untreu gern irn eignen herrn.

Quelle:
Burkard Waldis: Esopus. Erster und zweiter Theil, Band 1, Leipzig 1882, S. 154-156.
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