Die zweiundsechzigste Fabel.

Von einer Witwen, eins Mans begirig.

[247] Ein reiche witwe gieng einst hin

Und bat ir nehste nachbeurin

Und sprach: »Ir seht, wie meine hab

Von tag zu tag nimt immer ab;

Darumb ich mich des nicht darf schemen,

Wider ein andern man zu nemen.

Nicht daß mir zu dem tun sei gach,

Wie ir meint; nein, frag nit darnach.

Allein darumb gern einen het,

Daß er mein habe schützen tet.«

Die frau merket irs herzen list

Und sprach: »Gebt mir ein wenig frist,

Wil euch aussehen einen man,

An dem ir solt ein gfallen han.«

Nit lang darnach kam sie und sprach:

»Freut euch, es schickt sich wol die sach:

Wie ir begert, so ists geschehen.

Ich hab euch einen ausersehen,

Ist jung und schön, verstendig, fletig,

In sachen auszurichten tetig,

On daß er hat kein männlich glider.

Denn ich wol weiß, ir seid so bider,

Daß ir nach solchem tun nit fragt,

Wie ir oft selber habt gesagt.«

Sie sprach: »Du magst an galgen gan

Mit solchem unfreundlichen man![247]

Wiewol mich nicht das ding bewegt,

Welchs man zu nacht im bette pflegt,

So stets doch an eim manne wol,

Daß er hab, was er haben sol.

Und ich in auch derhalb nit nem,

Doch ob sichs bgeb und dazu kem,

Daß er im zorn wider mich schnorrt

Und ich mit worten gegen morrt,

Daß er denn het bei im ein frünt,

Der uns wider versönen künt.«

Der eestand zwischen frau und man

Mag keines wegs im fried bestan,

Es sei denn daß der freuden nagel,

An welchem hangt das under gagel,

Sie beiden fest zusamen haft:

Sonst get die lieb nicht in ir kraft:

Denn mert sich liebe, treu und zucht,

Wenn sie sehn ires standes frucht.

Quelle:
Burkard Waldis: Esopus. Erster und zweiter Theil, Band 1, Leipzig 1882, S. 247-248.
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