Die zwölfte Fabel.

Vom alten Löwen, Eber, Esel und Stier.

[29] Ein küner löw von frecher art

Het lang regiert gar streng und hart,

Damit vil tier zu feind gemacht

Und große ungunst auf sich bracht.

Das habens im, als er ward alt,

Mit gleicher maß wider bezalt.

Der eber fert in seulich an,

Riß in mit seinem eberzan;

Mit seinen hörnern auch der stier

Stieß in einmal, drei oder vier;

Der grobe esel unbedacht

Mit lesterworten in anfacht,

Wolt auch sein manheit an im bweisen,

Zeigt im die hinderen hufeisen.

Teten dem löwen vil zu leid,

Ein jedes tier in sonderheit.

Der löw erseufzet da und sprach:

»Jetzt solt ich haben hausgemach

Und in meim alter friedlich leben;

Tut mir ein jeder widerstreben.

Den ich zuwidern bin gesin,

Die bringen mirs mit haufen in,[29]

Bezalen mir mit gleicher maß

Den alten schaden und den haß,

Tun mir, wie ich in hab getan:

Vor bös muß böses wider han.

Aber den ich vorhin all gut

Getan, geschützt, mit steter hut

Allzeit gehalten über sie,

Das sind jetzund vornemlich die,

Die mich verfolgen tun und haßen,

Der woltat nicht genießen laßen.

Drumb ich mich übel hab bedacht,

In meinr gwalt vil feind gemacht.

Doch ist mir gar vil übler gschehen,

Daß ich mich nicht hab vorgesehen,

Zu falschen freunden mich gesellt,

Allzu vil glaubens zu in gestellt;

Die greifen mich jetzt herter an

Denn die, den ich hab leids getan.«

Im glück so wird die freundschaft groß

Und meret sich on alle moß;

Im unglück wird der freund probiert,

Wie uns hie dise fabel lert.

Darumb sol sich ein jeder maßen,

Im glück zu vil nicht dünken laßen;

Und der in hohem glück regiert,

Seh, daß er nicht tyrannisiert.

Das glück kan sich verwandlen schier:

Denn rechen sich die feind an dir.

Es ist auch not, daß du hast acht

Under denen, die du zu freund gemacht.

Etlich sind, die nicht lieben dich,

Sondern das dein, glaub sicherlich:

Wenn sich mindert dein glück und hab,

Fallen dieselben freund auch ab,

Wirst von denselben herter geplagt.

Des sich Ovidius beklagt

Und spricht: »Da mich das glück auftrug,

Het ich der freunde mer denn gnug.[30]

Sudosten wind mein segel rürt,

Da ward mein schiff mit freuden gfürt;

Bald der nordwest mit sturm entstund,

Da half kein freund, ich fiel zu grund:

Niemand reicht mir der hilfen hand,

Zu stücken treib mein schiff ans land.«

Man sagt, der freunde in der not

Gehn sechs und sechzig auf ein lot.

Quelle:
Burkard Waldis: Esopus. Erster und zweiter Theil, Band 1, Leipzig 1882, S. 29-31.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Blumen und andere Erzählungen

Blumen und andere Erzählungen

Vier Erzählungen aus den frühen 1890er Jahren. - Blumen - Die kleine Komödie - Komödiantinnen - Der Witwer

60 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon