Die vierzehnte Fabel.

Vom Löwen und der Maus.

[32] Es het ein löw sich müd gelaufen;

Under eim baum legt er sich schlafen.

Als er nu da entschlafen war,

Kam hinder im ein große schar

Feldmeuse, ein großer haufen,

Teten hart hinder im herlaufen,

Daß in dem laub ein wenig kracht:

Davon der selbig löw erwacht,

Erschrack und griff bald hinder sich,

Erwüscht ein meuslin behendiglich:

Er druckts ein wenig, daß es rief.

Die schar der meus gar bald entlief.

Das gfangen meuslin erschrack gar ser

Und sprach zum löwen: »Gnediger herr,

Erzörnet euch nicht über mich!

Denkt, wer ir seid, und wer bin ich.

Ich bitt, wöllet mich ledig lan;

Ir künt an mir kein er began.«

Da ließ der löw das meuslin laufen:

Bald kam es wider zu dem haufen.

Darnach der löw lief übers feld,

Vor einer hecken war gestellt

Ein strick, gelegt, die tier zu fangen:

Im selben blieb der löw behangen.

Er rief und kratzet in der erden,

Er kunt aber nicht los werden.

Als er nun schrie so lang und grimm,

Das meuslin hort des löwen stimm,

Welchs erst von im gefangen war.

Ganz eilend kam es laufen dar,

Auf daß es möcht erfarn und sehn,

Was dem löwen wer leids geschehn.[33]

Als es den löwen gefangen sach,

Es sprach: »Herr, diß eur ungemach

Und kummer wil ich euch bald wenden.«

Es bsah die strick an allen enden,

Mit seinen zänen die strick zerbiß

Und von einander gar zerriß.

Der löw ward aus dem strick erlöst:

Die kleine maus gab großen trost.

Dise fabel die große herrn

Gnade und gütigkeit tut lern.

Nach dem das glück ist wandelbar,

Jetzt ist es hie, jetzt lauft es dar,

Und komt oft, daß die großen herrn

Der armen hilf und rat begern.

Darumb so sol ein weiser man

Sollichs zu einer warnung han,

Daß er tu keinem menschen schaden,

Ungunst und haß auf sich zu laden.

Wer niemand forcht aus übermut,

Fürwar, derselb nicht weislich tut.

Es ist je großen königen gschehen,

Wie in den historien zu besehen,

Daß sich ir glück dahin begeben,

Daß sie der armen gunst musten leben.

Es komt wol, daß ein kleines kind

Ee denn ein alter ein gülden findt.

Es lert uns Christus, Gottes son:

Mit dem unrechtfertgen mammon,

Der gwunnen ist mit bösen sachen,

Uns gute freunde sollen machen,

Die sich zur bösen zeit nicht schemen,

Zum schutz in ir behausung nemen.


Quelle:
Burkard Waldis: Esopus. Erster und zweiter Theil, Band 1, Leipzig 1882, S. 32-34.
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