Die zwanzigste Fabel.

Vom Wolf und der Sau.

[44] Ein trechtige sau die solt geberen;

Da tet ein wolf an sie begeren

Und sprach: »Geliebte schwester mein,

Bitt, wöllest gutes mutes sein.

Der geburt halb hats mit dir kein not,

Wil mit dir teilen hilf und rat,

Im kindbet wil ich bei dir wesen,

Daß du magst deiner frucht genesen,

Wil dich nach meim vermügen retten

Und der hebammen statt vertreten.«

Die sau sprach: »Wolf, ge von mir fern,

Deiner hilf tu ich nicht begern.

Wiltu mir etwas zu willen ton,

So ste bald auf und ge darvon.[44]

Denn je du weiter bist von mir,

Dest mer hab ich zu danken dir.«

Des wolfes dienst wer angenem,

Wenn er sein tag zur sau nicht kem;

Wenn der wolf ist weit von der sau,

Ist angenem sein dienst und trau.

Die fabel tut uns nicht erlauben,

Daß wir solln allen alles glauben:

Es beut mancher den großen dienst,

Ist im herzen der aller minst

Und sucht gar oft sein eigen genieß

Mit fremdem schaden und verdrieß.

Drumb bis nicht fertig zu allen zeiten,

Alles zu glauben allen leuten.

Wer einem lügner leichtlich glaubt,

Wird oft der warheit auch beraubt.

Quelle:
Burkard Waldis: Esopus. Erster und zweiter Theil, Band 1, Leipzig 1882, S. 44-45.
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