Die neunundvierzigste Fabel.

Vom Lamb und Wolfe.

[82] Es lief mit einem bock ein lamb:

Ein wolf im da entgegen kam,

Sprach: »Warumb gest mit disem bock?

Sih, wie zerhudelt ist im der rock!

Sihe doch, wie lang ist im der bart,

Und stinket recht nach bockes art.

Drumb rat ich, folge meiner ler,

Bald heim zu deiner mutter ker,

Zu deiner lieben mutter brust:

Die magst saugen nach deinem lust.«

Da merkt das lamb des wolfes list,

Sprach: »Lieber wolf, bleib, wer du bist.

Mein mutter hat mich im befolhen,

Wir mit einander wandern sollen,

Und meiner wie ein vatter pflegen:

Derhalben ich mich gar erwegen,

Meim vatter jetzt am aller meisten,

Vil mer denn dir gehorsam leisten;

Denn du mich gdenkest zu verfüren,

Mit meiner haut dein wangen schmieren

Und schenken mir sanct Johans segen,

Wie die wolfe den lemmern pflegen.«[82]

Es lert uns dise fabel eben:

Solln nicht eim andern glauben geben.

Es gibt mancher eim andern rat

Aus bösem herzen, das er hat,

Und sucht damit sein eigen nutz,

Als under schmeichelworten schutz.

Damit der schlechte wird verfürt,

Daß in oft großer schade rürt.


Quelle:
Burkard Waldis: Esopus. Erster und zweiter Theil, Band 1, Leipzig 1882, S. 82-83.
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