Die einundfunfzigste Fabel.

Vom Vatter und seinen Sönen.

[84] Also ein vatter het vil kind,

Wie man dasselb noch teglich findt,

Die waren uneins mit einander,

Es wolt auch keiner wie der ander.[84]

Der vatter sich hie lang bedacht,

Wie er die sön eintrechtig macht,

Und legt in für ein henfen strick,

Ungeferlich eins fingers dick,

Sprach: »Wer von euch der sterkest sei,

Der ziehe mir disen strick entzwei.«

Ir keiner kunt den strick verbösen.

Der vatter tet in auflösen

Und gab eim jeden son ein faden;

Den zohens bald entzwei on schaden.

Da sprach der vatter: »Lieben kind,

Wie sichs mit disem strick jetzt findt,

So gets mit einigkeit auch zu:

Drumb wöllet freundlich leben nu.

Wenn ir halt fried und einigkeit,

So schad euch niemands haß noch neid.

Sobald die einigkeit zertrennt,

Get zu drümmern eur regiment:

Denn wird eur unglück recht gemert,

Wie tegliche erfarnheit lert.«

Groß bürgerlicher nutz und frommen

Tut aus der einigkeit herkommen:

Zwitracht zerrüttet und zerbricht,

Was große müe hat aufgericht.


Quelle:
Burkard Waldis: Esopus. Erster und zweiter Theil, Band 1, Leipzig 1882, S. 84-85.
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