Die dreiundneunzigste Fabel.

Vom Cameltier.

[137] Der Camel tet sich beklagen ser,

Wie bloß er stünd on alle wer,

Und wer dennocht so hoch gewachsen;

Daneben sehe er sten den ochsen,

Der trüg zwei hörner lang mit eren,

Damit er sich der feind möcht weren;

Er aber wist sich nit zu retten.

Ob einst der feind wurd an in treten

Und auf in seine zäne wetzen,

So het er sich nit zu entsetzen.

Den Jupiter rief bittlich an,

Daß er sich wolt erbarmen lan,

Aus gnaden im zwei hörner geben,

Daß er in nöten möcht sein leben

Erretten vor den feinden bös

Und irem feindlichen gedös.

Der torheit lacht der Jupiter

Und sprach: »Wie gar nerrisch ist der!

Er leßt im nicht an dem begnügen,

Welchs im Gott und natur zufügen,

Daß er so hoch ist auferwachsen

Und tregt ein sattel auf der achsen,

Ist sterker denn die andern tier

Und tregt auch mer denn ander vier.«

Aus zorn schneidt er im ab die oren,

Macht in den andern tiern zum toren,[137]

Daß er solchs bgert so unbedacht,

Ward von den andern dazu belacht.

Was einem jedern gibt das glücke,

Das nem er als sein eigen stücke,

Welchs im ist worden zur ausbeut,

Und sehe nicht fast auf ander leut;

Denn solchs zu mermaln ist geschehn,

Als wir erfarn und selb gesehn,

Daß einer sein beruf verließ

Und im selbst ein beßers verhieß,

Sein anschlag aber felen tet,

Zu letst noch groß noch kleines het.

Quelle:
Burkard Waldis: Esopus. Erster und zweiter Theil, Band 1, Leipzig 1882, S. 137-138.
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