Die fünfundneunzigste Fabel.

Von einem alten und einem neuen Wagen.

[112] Beim bauren war ein neuer wagen,

Der het noch nie kein last getragen,

Den lud der baur mit weizenkern,

Wolt farn zu mark, war eben fern.

Als er den wagen bracht zu weg,

Da gieng er langsam, faul und treg,

Er weinet, seufzet, knirrt und knarrt,

Gleich wie ein weberbogen schnarrt,

Daß man in hort von fern sich regen.

Da kam ein ander wag entgegen;

Der war nun alt und abgenützt,

Sein achsen waren zugespitzt;

Sein deichsel, felgen, speichen, naben

Verbraucht, geschwechet und verschaben,

Gebunden und mit ketten gfaßt,

Und trug dazu ein schwere last,

Dennoch gieng stillschweigend daher,

Gleich ob er hette kein beschwer.[112]

Des wundert sich der wagen neu

Und sprach: »Ich bit dich auf mein treu,

Weil du bist alt und abgetrieben,

Dein blech an achsen dünn gerieben.

All dein gelider sein verkummen,

Von viler arbeit abgenummen,

Dein speichen mager und onmechtig,

Und dennoch solcher last bist trechtig,

Doch hört man solchen alten wagen

Gar selten seufzen oder klagen.«

»Ei, lieber bruder«, sprach der alt,

»Diß stets für mein gewonheit halt,

Wiewol mirs in mein glidern schmerzt,

Denn mit der last wird nit gescherzt;

Doch weil mirs ist gesetzt zur buß,

Daß ich nur immer tragen muß,

So gib ich mich darin auch willig

Und werd derhalben nimmer schellig.

Ich leids gedültig, ungekeicht:

Drumb wird mir alle arbeit leicht.«

Weils in der welt so übel stet,

Auch in keim stande recht zuget,

So denk nur, wer recht leben wil,

Daß er im setz kein ander ziel,

Denn daß er sich zu aller frist

Zum leiden wapne, schick und rüst.

Denn wenn am schönsten scheint das glück,

Zeigt dir der unfall doch sein plick,

Und hast keins beßern zu erwarten;

Das scharpf gewint am ersten scharten.

Ein gmeiner schad ist gut zu wagen,

Ein teglich unglück leicht zu tragen;

Schwer tragen lert ein oft die not,

Die gwonheit leichte bürden hot.

Gut ists dem menschen, sagt die schrift,

Den unglück in der jugent trifft,[113]

Von kind auf tregt des herren joch,

Dem wirds dest leichter hindennoch.

Wer sauren laur nit hat gekost,

Der kennt fürwar kein süßen most.

Quelle:
Burkard Waldis: Esopus. Erster und zweiter Theil, Band 2, Leipzig 1882, S. 112-114.
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