Die neunundneunzigste Fabel.

Von zweien ungleichen Brüdern.

[122] Zwen brüder saßen in einr stadt;

Der eltest war gekorn in rat,

Drumb daß er war an sitten gütig,

In sachen zhandlen gar sanftmütig,[122]

Dem gmeinen man war nit zu stolz.

Der ander war ein trunkenbolz:

Dem war all er und zucht erleidt,

Kert sich an keine erbarkeit,

Acht auch nit groß das haushalten,

Ließ stets der guten trünke walten.

Einsmals da war er trunken und vol,

Het lang verdaut das morgenmol,

Umbs zeigers zwei hin nach mittag

Jenen vom rathaus kommen sach,

Gegen im stellt sich wie ein baur,

Sprach: »Bruder, wie sihstu so saur,

Als ob du eßig hetst getrunken,

So gar ist dir der mut versunken.«

Er sprach: »Solch schwer und wichtig sachen

Soltn ein noch wol unlüstig machen,

Welch gmeinen nutz und bests belangen,

Daran man allen fleiß muß hangen,

Daß man dieselb im fried entricht.

Davon weistu minder denn nicht.

Damit wir jetzt bei dreien wochen

Gehandelt und die köpf zerbrochen,

Auch disen halben tag geseßen;

Hab noch heut nie zu morgen geßen.«

Da antwort im der ander bruder

Und sprach: »Wenn du auch legst im luder,

Tetest wie ich und mein gesellen,

Die nit, wie du, nach weisheit stellen,

Und dich mit mir hetst drin geübt,

So möchtest eßen, wenn dirs gliebt.«

Wer sich an gute tage fleißt,

Denkt nit, denn daß er der geneußt,

Tut sich ind wildnus frei begeben

Und fürt ein epicurisch leben,

Frißt, seuft sich vol und legt sich nider,

Stet darnach auf und füllt sich wider:[123]

Die sein zu rechen wie die schwein,

Die laß man bleiben, wer sie sein.

Wer aber Gott vor augen helt,

Nach tugent, kunst und weisheit stellt,

Aufs höchst befleißt beid nacht und tag,

Wie er seim nehsten dienen mag,

Erlangt zuletst durch tugent fron

Groß lob und preis, der eren kron.

Der mensch, welcher an sinnen klug,

Ist wie ein eisen an dem pflug,

Damit man durch die erden fert;

Dasselb wird mit der zeit verzert,

Bleibt aber rein, fein blank und lustig.

Wo mans leßt ligen, wirds doch rustig,

Und von dem rost so gar gefreßen,

Daß mans leßt ligen so vergeßen.

Es sein die leut auch, welchen Gott

Vil gnad für andern geben hot,

Daß sie könn helfen oder raten

Mit guten reden oder taten,

Und sein desselben stets geflißen,

Die werden mit der zeit verschlißen

Und nemen an irn kreften ab,

Doch bleibt bei in biß in das grab

Der glanz des lobs und eren schein,

Welch nicht abwescht noch Elb noch Rhein.

Drumb laß nur farn die faulen knaben,

Die iren bauch zum abgott haben

Und sich sonst keiner tugent fleißen

Denn freßen, saufen, speien, scheißen.

Die wölln wir achten gleich den seuen,

Die eine speis oft zweimal keuen.

Wir wölln dieweil erbarlich leben,

Zu guten künsten uns begeben,

Die auch zu seiner zeit den lon

Bei Gott und leuten werden hon.

Quelle:
Burkard Waldis: Esopus. Erster und zweiter Theil, Band 2, Leipzig 1882, S. 122-124.
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