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[144] Es sollte in der Nacht sein, das war ihr Wunsch, und sie gab ihm ein Zeichen. Es gelang ihr, ihm von den andern unbemerkt zuzuflüstern, daß sie in der Nacht zu ihm kommen und ihm etwas bringen wolle; er möge sie erwarten.

Er sah sie wortlos an. Viele waren schon zu ihm gekommen, in der Nacht; das Versprechen keiner hatte ihn so entflammt. Als sie von ihm weghuschte, bebten seine Lippen.

Nach Mitternacht, alle schliefen im Hause, verließ sie ihr Zimmer und stieg in das obere Stockwerk hinauf, in welchem Christian mehrere Gemächer bewohnte. Sie ging leise, ohne sonderliche Ängstlichkeit. Den Kopf spähend vorgeneigt, raffte sie mit den Händen die Schleppe des weißseidenen Übergewands, das sie trug. Der durchsichtige Stoff glich mehr einem Schimmer auf der Haut, einem Perlenschimmer, als einer Hülle. Nur um Brust und Leib lag er in Verdopplung; den Schritt behinderte ein um die Knie geschlungenes Atlasband, und sie mußte, sich selbst zum Spott, während die Pulse stürmisch klopften, vorsichtig trippeln wie die Geishas, die sie auf dem Theater gesehen hatte.

Als Christian die Tür hinter ihr geschlossen hatte, lehnte sie sich daran; die Beine verweigerten ihr den Dienst.

Er faßte sie zart an beiden Handgelenken, hauchte einen Kuß auf ihre Stirn und fragte lächelnd: »Was wolltest du mir denn bringen, Lätizia? Ich bin gespannt.«

Da wurde sie inne, daß sie die goldene Kröte vergessen hatte. Noch kurz bevor sie aus ihrem Zimmer gegangen war, hatte sie sie bereit gelegt, desungeachtet hatte sie sie vergessen. »Nein, wie dumm,« entschlüpfte es ihr, und sie sah beschämt auf ihre schwarzen Samtschuhe nieder, »wie dumm! Ich hab mir eine kleine Kröte aus Gold machen lassen, die wollt ich dir bringen.«

Er stutzte. Er erinnerte sich der Worte, die er ihr vor vielen[145] Monaten gesagt. Die verflossene Zeit war dreifach lang. Er wunderte sich, wie es hatte sein können, daß ihn eine Kröte so geschreckt. Wohl hörte er sich selbst: »Laß dir eine kleine Kröte aus Gold machen, damit der böse Zauber weicht.« Aber die Mahnung besaß heute keine Gültigkeit mehr, der Zauber war auch ohne Talisman gebrochen.

Wie er nun das Mädchen so vor sich stehen sah, zitternd und trunken, zitterte auch er und ward trunken. Viele waren schon gekommen, in der Nacht; keine so unschuldig und so schuldig dabei, keine so entschlossen und so betört zugleich. Er kannte die Gebärden, ihr stummes Schmachten, das erloschene und wieder aufflammende Auge an ihnen, das halbe Nein und halbe Ja, ihr Anklammern und Wegstoßen, ihre Seufzer, ihre wunderbaren Tränen, die wie warmer, salziger Tau schmeckten, er kannte es an vielen. Und es neuerdings zu erfahren und zu spüren, drängten ihn die Sinne mit aller Macht.

Aber es war etwas dawider. Es war ein braunblasses Gesicht dawider, das ihn mit Augen von unbeschreiblicher Klarheit anschaute. Es war ein blutüberströmtes Gesicht dawider, an dem die schwarzen Haare klebten, und es war ein vom Wasser aufgedunsenes Gesicht dawider, das vordem schön gewesen war. Es war ein Gesicht dawider voll Haß und Scham, das auf schlechtem Linnen ruhte, und ein anderes, in einer Kofferkammer, mit einer weißen Binde umkleidet. Es waren Gesichter von Männern und Weibern dawider, Tausende und Tausende, am Ufer eines Stroms, und andre Gesichter, verkohlte und zertretene in einer Scheune, die er so genau wie in Wirklichkeit durch die Augen eines Ergriffenen gesehen.

Es war sein Herz dawider. Es war die Liebe dawider, die er für Lätizia empfand.

Er wurde ein wenig bleicher, und in seinen Fingerspitzen war Kälte. Da faßte er Lätizia bei der Hand und führte sie in die Mitte des Zimmers. Sie schaute sich zaghaft um, doch jeder Blick galt ihm, von dem sie erfüllt war. Sie fragte[146] nach den Bildern, die an der Wand hingen, bewunderte die Ähnlichkeit seines Porträts, welches sich darunter befand, wollte wissen, was eine kleine Skulptur vorstellte, die er in Paris gekauft hatte; ein Mann und ein Weib, aus Felsen sich lösend, strebten elementar gegeneinander.

Ihre tiefe Stimme hatte sinnlicheren Klang denn je. Indem er ihr antwortete, kam ihm von neuem die Versuchung an, die warme, rosige, blutdurchpulste Wölbung der Schulter, die einer frischen Frucht glich, mit den Lippen zu berühren. Aber es rief in ihm, unüberhörbar: einmal nicht! nur ein einziges Mal nicht!

Es war schwer, aber er gehorchte.

Lätizia wußte nicht, was mit ihr geschah. Sie schauerte zusammen und bat ihn, das Fenster zuzumachen. Aber als das Fenster zugemacht war, fröstelte sie noch stärker. Sie sah ihn von der Seite an. Sein Gesicht erschien ihr hochmütig und fremd. Sie hatten sich auf den Diwan gesetzt, und es war ein Schweigen entstanden. Warum hab ich nur die kleine goldene Kröte vergessen? dachte Lätizia, das ist an allem schuld; und instinktiv rückte sie ein wenig von seiner Seite weg.

»Vielleicht wirst du es später verstehen, Lätizia,« sagte er und erhob sich. Gleich darauf ließ er sich vor ihr auf den Boden nieder, nahm ihre beiden kühlen Hände und legte sie an seine Wangen.

»Nein, ich verstehe es nicht,« flüsterte Lätizia und lächelte mit nassen Augen, »werde es nie verstehen.«

»Doch, du wirst; einmal wirst du es verstehen.«

»Nie,« beteuerte sie leidenschaftlich, »nie.« Alles verwirrte sich in ihr. Sie dachte an Blumen und Sterne, an Bilder und Träume. Sie dachte, wie er es gesagt, an Vögel, die aus der Luft fallen und sterben, und an ein Reh, das erschossen vor ihren Füßen lag. Sie dachte an Wege, die sie gehen würde, an Fahrten auf dem Meer, an Schmuck und an köstliche Gewänder. Aber es hatte kein Bindendes für sie, es löste sich[147] alles wieder zu Stücken. Es riß in ihrem Innern eine Kette, und sie hatte das Bedürfnis, sich hinzulegen und einige Zeit zu weinen. Nicht lange; wenn dann das Weinen vorüber war, konnte es sein, daß sie sich wieder auf den morgigen Tag freute und auf Stephan Gunderam und auf die Hochzeit mit ihm.

»Gute Nacht, Christian,« sagte sie und bot ihm die Hand wie nach harmlosem Plaudern. Die Gegenstände im Zimmer hatten ein andres Aussehen. Auf dem Tisch stand eine geschliffene Schale mit Herbstzeitlosen; die weißen Stengel glichen den Fühlarmen eines Polypen. Die Nacht vor den Fenstern war nicht mehr dieselbe Nacht wie vordem. Man war auf eine eigne Art ganz frei, auf eine trotzige und rachsüchtige Art.

Christian war überrascht von ihrer Haltung und Gebärde. War sie als Mädchen zu ihm gekommen, so ging sie fort als Frau, ohne daß er sie angerührt hatte. »Ich will nachdenken,« sagte sie und nickte ihm mit einem großen, dunklen Blick zu, »ich wills verstehen lernen.«

So ging sie; ging in ihr reiches, armes, abenteuerliches, schweres, tändelndes Leben hinein.

Christian lauschte ihrem Schritt, der hinter der geschlossenen Tür schnell verklang. Er stand regungslos, mit tief gesenktem Kopf. Es war, auch für ihn, nicht mehr dieselbe Nacht wie vordem. Ungeachtet seines Gehorsams gegen die Stimme nagte der Zweifel an ihm, ob, was er getan, recht oder unrecht war, gut oder schlecht.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 144-148.
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