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[91] Cardillac fiel in Ungnade bei Eva; damit verlor er den letzten Halt. Die Gefahr, mit der er verwegen gespielt, umstrickte ihn; der Abgrund zog ihn hinunter.

Den äußeren Anstoß zu seinem Sturz gab ein junger Ingenieur, der einen Wassermesser erfunden hatte. Cardillac hatte ihn durch großartige Versprechungen überredet, ihm die Nutzbarmachung der Erfindung zu überlassen. Es dauerte nicht lange, so erkannte der Ingenieur, daß er betrogen und um den Ertrag seiner Arbeit gebracht war. Er sammelte in der Stille Material gegen den Spekulanten, deckte seine betrügerischen Geschäfte auf und überreichte bei Gericht eine Reihe vernichtender Anklagen. Obwohl ihm Cardillac schließlich fünfmalhunderttausend Franken anbieten ließ, wenn er die Klagen zurückziehe, weigerte sich der hartnäckige Verfolger.

Andre Umstände kamen hinzu; die Katastrophe war nicht mehr aufzuhalten. An einem einzigen Vormittag fielen die Kurse seiner Papiere um Hunderte von Franken. Dreihundert Millionen wurden in zweimal vierundzwanzig Stunden verloren.[91] Die Ernte des Baissiers war gekommen. Zahllose Existenzen gerieten mit der Geschwindigkeit eines Lawinensturzes ins Elend, achtzehnhundert Kleingewerbetreibende büßten ihr ganzes Hab und Gut ein, siebenundzwanzig bedeutende Firmen mußten den Konkurs anmelden, Senatoren und Abgeordnete des Parlaments wurden in den Strudel gerissen, und unter den Angriffen der Opposition wankte die Regierung.

Felix Imhof kam nach Paris, um aus dem Zusammenbruch zu retten, was noch zu retten war. Der empfindliche Verlust, den er erlitten hatte, hinderte ihn nicht an entzückten Äußerungen über das imposante Schauspiel, welches der Untergang Cardillacs der Welt darbot.

Crammon sagte: »Ich war keusch wie Joseph, als mich diese Potiphar verführen wollte.« Er deutete mit dem Zeigefinger kichernd auf Imhof und rieb sich selbstzufrieden die Hände.

Am darauffolgenden Abend ging Imhof mit den Freunden zu Eva Sorel. Sie hatte das Palais verlassen, das ihr Cardillac eingerichtet, und ein schönes Haus an der Chaussee d'Antin gemietet.

Imhof sprach von der besonderen Tragik moderner Schicksale, und als ein Beispiel erzählte er, wie Cardillac drei Tage vor seinem Sturz im Hauptquartier seiner erbittertsten Gegner erschienen sei, nämlich in der Bank von Paris. Der Verwaltungsrat der Bank war vollzählig versammelt. Mit gefalteten Händen, mit tränenüberströmtem Gesicht flehte der gehetzte Mann um ein Darlehn von zwölf Millionen Franken. Es war ein drastisches Zeichen seiner Naivität, von denen Hilfe zu verlangen, die er seit Jahr und Tag an der Börse geschröpft, deren Verluste er eingeheimst und die er mit dem neuen Darlehn noch weiter bekämpfen wollte.

Christian hörte zerstreut zu. Er stand Arm in Arm mit Crammon vor einem chinesischen Wandschirm; ihnen gegenüber[92] saß Eva, eigentümlich verträumt, und dicht neben ihr Sir Denis Lay. Auch andre waren anwesend, aber ihnen schenkte Christian keine Aufmerksamkeit.

Auf einmal entstand an der Tür eine Bewegung. »Cardillac,« flüsterte jemand. Alle blickten hin.

In der Tat war es Cardillac, der eingetreten war. Seine Stiefel waren beschmutzt, Kragen und Krawatte in einer Unordnung, als habe er sie schon eine Woche lang am Leib. Er hatte die Fäuste zusammengedrückt, seine Augen wanderten unstet von Gesicht zu Gesicht.

Eva und Sir Denis blieben ruhig sitzen. Eva stützte den Fuß auf den Rand eines kupfernen, mit weißen Lilien gefüllten Gefäßes. Auch die andern rührten sich nicht. Nur Christian machte, unwillkürlich, ein paar Schritte auf Cardillac zu.

Cardillac gewahrte ihn. Er ergriff ihn am Ärmel des Fracks und zog ihn zur Tür des Nebenraums. Sie waren kaum über die Schwelle gelangt, als Cardillac gepreßten Tones flüsterte: »Ich muß zweitausend Franken haben, sonst bin ich verloren. Strecken Sie mir zweitausend Franken vor, Monsieur, retten Sie mich, ich habe Frau und Kind.«

Frau und Kind, dachte Christian erstaunt, wie geht das zu, kein Mensch hat davon gewußt. Und weshalb wendet er sich gerade an mich? Da ist Wiguniewski, da ist d'Autichamps, da sind viele, die er besser kennt.

»Ich muß in einer halben Stunde am Ostbahnhof sein,« hörte er Cardillac sagen. Er griff nach seiner Brieftasche.

Frau und Kind, fuhr es ihm durch den Kopf, und der heftige Widerwille gegen Bettler erwachte in ihm; was hab ich damit zu schaffen? Er nahm die Geldnoten heraus. Zweitausend Franken, dachte er, und erinnerte sich der Millionensummen, die man gewohnt war, in Verbindung mit dem Namen des Mannes zu nennen, der bettelnd vor ihm stand.

»Ich danke Ihnen,« vernahm er Cardillacs Stimme wie durch eine Wand.[93]

Mit gesenktem Kopf schritt Cardillac an ihm vorüber; im andern Zimmer hatten sich indessen zwei fremde Männer eingefunden. In der offenen Doppeltür hinter ihnen standen die Diener mit verlegenen Gesichtern. Es waren Polizeibeamte. Sie suchten Cardillac, sie waren ihm bis ins Haus gefolgt.

Cardillac, sie erblickend und was sie hergeführt erratend, prallte gurgelnd zurück. Seine rechte Hand verschwand in der Rocktasche; mit einem Sprung waren die beiden Leute neben ihm und hatten seine Arme gepackt. Es gab ein kurzes, lautloses Ringen; plötzlich war er gefesselt.

Eva hatte sich erhoben. Ihre Gäste scharten sich um sie. Sie lehnte sich an Susannes Schulter und drehte den Kopf zur Seite, als graue ihr ein wenig. Aber sie lächelte noch, wenngleich mit entfärbten Wangen.

»Er ist grandios, auch in diesem Moment grandios,« sagte Imhof leise, zu Crammon gewendet.

Christian starrte auf Cardillacs mächtigen Rücken; wie der Rücken eines Ochsen, der zur Schlachtbank gezogen wird, mußte er denken. Die zwei Männer, in deren Mitte der Gefesselte ging, hatten fettglänzende Nacken und darüber am Hinterkopf schlecht abgeschnittene, unsaubere Haare.

Ein übler Geschmack im Gaumen quälte Christian. Er rief einen der Diener und verlangte ein Glas Sekt.

Cardillacs Worte: »Ich habe Frau und Kind« wollten ihm nicht aus dem Sinn. Im Gegenteil, sie klangen immer greller, und da fragte auf einmal eine zweite Stimme, neugierig, einfältig: wie mögen sie aussehen, diese Frau, dieses Kind? Wo mögen sie sein? Was wird mit ihnen geschehen?

Es war störend und peinigend wie Zahnschmerz.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 91-94.
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