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[63] Eines Nachts betrat Crammon ein Kaffeehaus an einem der äußeren Boulevards, »le pauvre Job«, spähte eine Weile durch den Raum und setzte sich dann unfern von einem Tisch nieder, an welchem mehrere junge Leute von fremdem Aussehen sich leise in einer fremden Sprache unterhielten.[63]

Es war eine Gesellschaft von russischen Flüchtlingen, deren Zusammenkunftsort er ausgeforscht hatte. Ihr Haupt war Iwan Michailowitsch Becker. Indem er sich stellte, als läse er in einer Zeitung, beobachtete Crammon mit Aufmerksamkeit diesen Mann, den er nach einer Photographie erkannte, welche ihm Fürst Wiguniewski gezeigt. Er hatte ein so fanatisches Gesicht nie gesehen. Er verglich es mit einem schwelenden Feuer, das Hitze und Qualm um sich verbreitet.

Man hatte ihm erzählt, daß Iwan Becker sieben Jahre in Gefängnissen und fünf Jahre in Sibirien geschmachtet habe, daß Tausende und aber Tausende junger Menschen seines Volks ihm schrankenlos ergeben seien und es nur eines Winks von ihm bedürfe, damit sie sich opferten mit Leib und Seele.

Da hausen sie im lichtesten Bezirk der bewohnten Erde und brüten ihre Greuel aus, dachte Crammon böse.

Crammon war ein Gegner des Umsturzes, obwohl er es, wenn seine Bequemlichkeit nicht gefährdet war, ganz gern sah, daß der kleine Mann dem satten Bürger etwas am Zeug flickte. Er war ein Freund des kleinen Mannes; er war dem Volk leutselig zugeneigt. Doch achtete er das Herkommen, widersetzte sich dem Bruch der Gerechtsame und verehrte seinen Monarchen. Jede Neuerung im Staatsleben erfüllte ihn mit unheilvollen Ahnungen, und er seufzte über die Schwäche der Regierenden, die sich von nichtswürdigen Parlamenten das Steuer entwinden ließen.

Es war etwas Drohendes an der Peripherie seiner Welt; Lampen wurden vom Sturmwind ausgeblasen, und was dann, wenn der Lichterglanz völlig verlosch? Illumination war das wesentlich Beruhigende des Lebens.

Breit und ernst saß er da, im Gefühl seiner Überlegenheit und seiner guten Taten. Er hatte beschlossen, als Vertreter der Ordnung dem Rebellen ins Gewissen zu reden, falls sich ein geeigneter Anlaß bot. Dabei quälte ihn nicht so sehr die Furcht um den Bestand des Zarenthrons als die Sorge um[64] Eva Sorel. Es war notwendig, die Tänzerin aus den Netzen des Menschen zu befreien.

Die Fügung begünstigte sein Vorhaben. Einer nach dem andern entfernte sich vom Tisch drüben, und schließlich blieb Iwan Becker allein. Crammon nahm sein Glas Absinth, ging hinüber und stellte sich dem Russen vor, wobei er sich auf seine Bekanntschaft mit dem Fürsten Wiguniewski berief.

Becker wies stumm auf einen Stuhl.

Getreu seiner leutseligen Veranlagung, machte Crammon durchaus den Liebenswürdigen, der sich in jede menschliche Abnormität zu schicken weiß. In unverfänglichen Windungen näherte er sich seinem Ziel; das giftige Gestrüpp politischer Themen streifte er kaum; daß im europäischen Westen die private Freiheit auserwählter Personen unangetastet bleiben müsse und man gezwungenermaßen Gewalt gegen Gewalt setzen werde, ließ er nur zart in der Andeutung. Aber es war ein Mahnruf. Iwan Michailowitsch Becker lächelte nachsichtig.

»Wenn der ganze Himmel von den Feuersbrünsten lodert, die euer heiliges Rußland verheeren,« sagte Crammon pathetisch, und seine Mundlinien senkten sich in rechten Winkeln gegen das eckige Kinn, »wir werden, was uns heilig ist, zu schützen wissen. Caliban ist eine imposante Bestie; vergreift er sich an Ariel, so mag ers bereuen.«

Wieder lächelte Iwan Michailowitsch, sonderbar weich und mild, was seinem häßlichen, auffallend großräumigen Gesicht einen frauenhaften Ausdruck verlieh. Er lauschte wie um sich belehren zu lassen.

Hierdurch ermutigt, fuhr Crammon fort: »Was hat Ariel zu schaffen mit eurem Jammer? Er schaut zurück im Schreiten, ob man die Spuren seiner Füße küßt, und fordert Freude und Ruhm, nicht Blut und Gewalt.«

»Ariels Füße tanzen über offene Gräber,« sagte Iwan Michailowitsch mit leiser Stimme.[65]

»Eure Toten sind gut aufgehoben, mit den Lebendigen werden wir fertig,« erwiderte Crammon.

»Wir kommen,« sagte Iwan Michailowitsch noch leiser, »wir kommen.« Dies klang rätselhaft.

Halb ängstlich, halb verächtlich blickte ihn Crammon an. Nach einer langen Pause ließ er sich obenhin vernehmen: »Ich treffe das Herzaß auf zwölf Schritt Entfernung unter fünf Schüssen viermal.«

Iwan Michailowitsch nickte. »Ich nicht,« antwortete er fast demütig und zeigte seine rechte Hand, die er sonst geschickt zu verbergen wußte. Sie war verkrüppelt.

»Was ist mit Ihrer Hand geschehen?« fragte Crammon erschrocken.

»In dem unterirdischen Kerker zu Kasan, worin ich lag, hat mich ein Aufseher zu hart an die Fessel geschmiedet,« murmelte Iwan Michailowitsch.

Crammon schwieg; aber Iwan Michailowitsch fuhr fort: »Sie werden auch bemerkt haben, daß mir das Sprechen Schwierigkeiten bereitet. Ich habe zu lange einsam gelebt, in der Schneewüste, in einer Hütte aus Holz, in eisiger Kälte. Ich war der Worte entwöhnt. Ich litt, doch das ist auch nur ein Wort: Leiden. Was könnte man sagen, wie sich verständlich machen? Mein Körper war nur noch ein Gerüst, ein Überbleibsel; mein Herz, das wuchs und schwoll, ja, was könnte man da sagen? Es war so groß, so blutrot, so schwer, daß es mir gleichsam zur Last wurde während der fürchterlichen Flucht, zu der ich mich endlich entschloß. Aber Gott hat mich beschützt.« Und er wiederholte leise: »Gott hat mich beschützt.«

In Crammons Kopf verwirrten sich die Begriffe. Dieser Mann mit der sanften Stimme und den schüchternen Augen eines Mädchens, war das der mordgierige Revolutionär und Barrikadenheld, auf den er gefaßt gewesen? Er wunderte sich und schwieg beklommen.[66]

»Lassen Sie uns aufbrechen, es ist spät,« sagte Iwan Michailowitsch, erhob sich, warf eine Münze auf den Tisch und trat an Crammons Seite auf die Straße. Er begann wieder, zögernd und scheu: »Ich will mir kein Urteil anmaßen, aber ich verstehe die Menschen hier nicht. So selbstgewiß und vernünftig; sie ist ja der vollendete Wahnsinn, diese Art Vernunft. Das Tier ist klüger, das von seiner Stätte flieht, wenn es ein Erdbeben spürt. Noch etwas, Monsieur. Ein Wort noch über das Wesen, das Sie so ausdrücklich in Ihren Schutz nehmen. Ariel ist moralisch nicht belastbar. Niemand denkt daran, es zu tun. Da ist nur Linie, nur Gebärde, nur Schönheit. Meinen Sie nicht, daß die dunklere Farbe und tiefere Kraft, die das Wissen um übermenschliche Leiden gibt, diese Kunst über die Interessensphäre müßiger Schmecker hinausheben kann? Wir brauchen Herolde, die über den Idiomen der Völker stehen; da sind Möglichkeiten, von denen man nur mit Verzweiflung im Herzen träumen kann.« Er nickte einen Gruß und ging.

Crammon war es wie einem, der in leichtem Sommeranzug fröhlich ausgezogen ist und, von einem Platzregen überrascht, naß und verdrossen heimkehrt. Die Uhren schlugen zwei. Eine Sängerin von der Komischen Oper erwartete ihn seit Mitternacht; er trug ihren Wohnungsschlüssel in der Tasche. Als er über die Seinebrücke schritt, ergriff er den Schlüssel und schleuderte ihn in einem Anfall heftigen Mißmuts ins Wasser.

»Süßer Ariel,« sprach er vor sich hin, »ich küsse die Spuren deiner Füße.«

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 63-67.
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