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[67] Adda Castillo merkte, daß Christian sich von ihr abwandte. Sie hatte es nicht erwartet, nicht nach so kurzer Zeit. Als sie ihn erkalten sah, wuchs ihre Liebe. Da wuchs auch seine Gleichgültigkeit,[67] und ihr leidenschaftliches Herz büßte die Ruhe gänzlich ein.

Sie war an Wechsel gewöhnt, war viel geliebt worden, trotz ihrer Jugend, hatte viele geliebt und Treue nie gefordert, noch gehalten. Aber dieser Mann war ihr mehr, als andre gewesen waren.

Sie wußte, an wen sie ihn verlor; sie hatte die Tänzerin gesehen. Christian, zur Rede gestellt, gab offen zu, was sie bloß als Verdacht geäußert hatte, um beschwichtigt zu werden. Sie verglich. Sie fand, daß sie schöner sei als Eva Sorel, ebenmäßiger, rassiger, feuriger; ihre Freunde bestätigten es. Dennoch spürte sie, daß dort ein Vorteil war, gegen den sie unterlag, den weder sie noch einer ihrer Schmeichler benennen konnte; um so mehr fühlte sie sich beleidigt.

Sie schmückte sich, sie trieb kokette Spiele, sie entfaltete alle Seiten ihres wilden und hinreißenden Temperaments; es war umsonst. Da schwor sie Rache, ballte die Fäuste, stampfte auf den Boden; sie bettelte, lag auf den Knien vor ihm und schluchzte. Eines war so töricht wie das andre. Er wunderte sich und fragte gelassen: »Warum entwürdigst du dich so?«

Eines Tages teilte er ihr mit, daß sie auseinander gehen müßten. Sie wurde kreideweiß und zitterte. Plötzlich riß sie einen Revolver aus ihrem Täschchen, zielte auf ihn und drückte zweimal ab. Er hörte die Kugeln an seinem Kopf vorüberzischen, die eine links, die andre rechts. Sie schlugen in den Wandspiegel und zertrümmerten ihn; die Scherben fielen klirrend zu Boden.

Leute Christians stürzten an die Tür. Christian ging hinaus und erklärte den Vorfall harmlos als die Folge einer Unvorsichtigkeit. Zurückgekehrt, sah er Adda Castillo auf dem Sofa liegen, das Gesicht in Kissen vergraben. Keine Miene von ihm zeigte Schrecken über die Gefahr, der er entgangen war. Wie lästig dies alles und wie banal, dachte er. Er nahm Hut und Stock und verließ das Zimmer.[68]

Erst lange nachher erhob sich Adda Castillo, schritt zum Spiegel und schauderte leicht zusammen, als sie nur noch ein Stück davon in einer Ecke des Rahmens stecken sah. Doch ordnete sie vor der Scherbe ihr kohlschwarzes Haar.

Ein paar Tage später kam sie zu Christian, zu einer letzten Unterredung von fünf Minuten, wie sie ihm auf einer Karte geschrieben hatte. Am selben Abend sollte die Abschiedsvorstellung für Paris sein, und sie bat ihn, er möge in den Zirkus gehen. Er zögerte mit der Antwort; ihre glühenden Augen in dem wachsbleichen Antlitz waren wie in Todesangst auf ihn geheftet. Ihm ward unbehaglich, aber in einer Regung von Mitleid sagte er zu.

Crammon begleitete ihn. Sie kamen gerade, als Adda Castillos Nummer begann; der Wagen mit den Löwen wurde in die Arena geschoben. Ihre Plätze waren ganz vorn. »Sie sind mir schon ein wenig langweilig, die guten Löwen,« räsonierte Crammon und hielt sein Lorgnon an die Nase, um die Leute zu mustern.

Adda Castillo im scharlachroten Trikot, die schwarzen Haare gelöst, Wangen und Lippen geschminkt, betrat den Käfig, in welchem sich fünf Löwen, eine Mutter mit ihren vier Jungen, befanden. Mochte sein, daß etwas im Wesen der Bändigerin die Tiere reizte; Teddy, der jüngste Löwe, stellte sich gegen seine Mutter, brummte gewaltig und erhob die Tatze gegen sie. Adda Castillo stieß ihren Pfiff aus und machte eine Gebärde, um die beiden auseinanderzutreiben. Teddy duckte sich und fauchte.

In diesem Moment drehte sich Adda Castillo, anstatt das Raubtier im Blick zu behalten, dem Publikum zu und durchsuchte mit funkelnden Augen die vordersten Reihen. Da sprang ihr Teddy an die Schulter und warf sie zu Boden. Ein Schrei aus vielen Kehlen ertönte, die Menschen erhoben sich, viele flüchteten, viele blickten gebannt und bleich in den Zwinger.[69]

Nun geschah es, daß Trilby, die Mutter der jungen Löwen, mit einem riesigen Satz hinzusprang, nicht etwa, um die Herrin ebenfalls anzugreifen, sondern um sie zu retten. Mit furchtbaren Prankenhieben schlug sie Teddy beiseite und stellte sich schützend über das auf dem Boden liegende, aus zahlreichen Wunden blutende Mädchen. Aber die jungen Löwen, blutlüstern, warfen sich auf die Mutter, schlugen auf sie ein und bissen sie in den Rücken und in die Flanken, so daß sie sich heulend in einen Winkel zurückzog und das Mädchen seinem Schicksal überließ.

Mittlerweile waren die Wärter mit Spießen und langen Gabeln herbeigeeilt; zu spät. Die jungen Löwen hatten sich in den Körper Adda Castillos verbissen und ihn vollkommen zerfleischt. Erst als man auf die zerfetzten Leichenteile Formaldehyd spritzte, ließen sie davon ab.

Mitleids- und Angstrufe, Weinen und Händeringen von Frauen, Gewühl an den Ausgängen und Lärm der Helfer, ein Clown, der wie erfroren auf einer Trommel stand, ein Pferd, welches aus der Manege rannte, der Anblick des verstümmelten, zerrissenen, blutüberströmten Frauenkörpers mit den bunten, bluttriefenden Kleiderfetzen, es drang als Zusammenhang und Folge kaum recht in Christians Bewußtsein. Es war Wirrsal und Spuk. Er gab keinen Laut von sich, und sein Gesicht war blaß. Sein Gesicht war sehr blaß.

Während sie im Auto zu Jean Cardillac fuhren, bei dem sie zum Souper geladen waren, sagte Crammon: »Ich möchte nicht zwischen den Kinnladen eines Löwen enden, bei Gott nicht. Es ist ein grausamer Tod, ein jämmerlicher Tod.« Er seufzte und schielte verstohlen zu Christian hinüber.

Christian ließ den Wagen halten und bat Crammon, ihn bei Cardillac zu entschuldigen. »Was hast du vor?« fragte Crammon erstaunt.

Er wolle allein sein, antwortete Christian, er wolle ein wenig allein sein.[70]

Crammon konnte sich nicht fassen. »Allein? Du? Wozu denn?« Aber Christian war bereits unter den Menschen verschwunden.

»Allein sein! Verrückte Idee,« brummte Crammon kopfschüttelnd, und er befahl dem Lenker, weiterzufahren. Er stülpte den Mantelkragen hinauf und weihte der unglücklichen Adda Castillo ein letztes Gedenken, ohne den Freund schuldig zu finden und ohne ihn zu tadeln.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 67-71.
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