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[293] Es war in einer andern Nacht. Sie hatten viel gescherzt und einander heitere Dinge erzählt, und endlich waren sie müde geworden.

Da sah Christian in der Dunkelheit vor den Fenstern die Gestalt seines Vaters, daneben die Hündin Freia. Der Vater hatte den Schritt eines einsamen Mannes. Niemals war Christian diese Einsamkeit so augenscheinlich gewesen. Das Tier war sein einziger Gefährte. Er hatte Umschau gehalten nach einem andern Gefährten, doch keiner hatte ihn begleiten gewollt.

Wie ist das möglich? dachte Christian.

Seine Sinne verloren sich in eine Art von Halbschlummer, während er Evas schönen Körper hielt, der glatt und kühl wie Elfenbein war. In diesem Halbschlummer, oder was es war, tauchten sein Bruder, seine Schwester, seine Mutter auf, und um jeden von ihnen war dieselbe Einsamkeit und Verlassenheit.

Wie ist das möglich? dachte Christian, ihr Leben ist zum Ersticken voll von Menschen.

Aber ist denn nicht auch dein Leben zum Ersticken voll von Menschen, antwortete er sich, und fühlst du nicht auch diese Einsamkeit und Verlassenheit? Woher kommt das? Was ist schuld?

Nun senkte sich ein dunkler Gegenstand über ihn. Es war[293] ein Mantel; ein nasser triefender Mantel. Gleichzeitig rief ihm jemand zu: Steh auf, Christian, steh auf! Er vermochte nicht aufzustehen, die elfenbeinernen Arme ließen ihn nicht los.

Auf einmal gewahrte er Lätizia. Sie fragte nur das eine Wort: warum? Es dünkte ihm, während er schlief oder vielleicht auch nicht schlief, daß er sich für Lätizia hätte entscheiden sollen, die verurteilt war, mit ihren Träumen (und nur von Träumen lebte sie, von Einbildungen und Fiktionen) das Opfer der gemeinen Wirklichkeit zu werden. Ihm dünkte, als spräche Lätizia, auf Eva weisend: Was willst du bei dieser? Sie weiß nichts von dir, sie lebt und webt für sich. Sie ist ehrgeizig, bei ihr kannst du nicht Hilfe finden in deinem Leiden. Denn nur um dein Leiden zu vergessen und zu betäuben, verschwendest du dich an sie.

Christian erstaunte darüber, daß Lätizia so weise war. Er war fast geneigt, ihre Weisheit zu belächeln. Gleichwohl wußte er nun, daß er litt. Es war ein Leiden von unergründlicher Beschaffenheit, das von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde größer wurde wie eine um sich fressende Wunde.

Sein Kopf lag auf der Schulter seiner Geliebten; ihre kleinen Brüste ragten aus violetten Schatten empor und hatten einen zitternden Kontur. Er fühlte ihre Schönheit durch und durch, ihre Seltsamkeit, ihre Leichtigkeit. Er fühlte, daß er sie mit allen Gedanken und bis in die letzten Adern liebte, aber daß er trotzdem keine Hilfe bei ihr finden konnte.

Abermals rief es: Steh auf, Christian, steh auf! Er vermochte nicht aufzustehen. Er liebte dieses Weib und fürchtete sich vor dem Leben ohne sie.

Die Morgendämmerung meldete sich schon, als ihm Eva das Gesicht zuwandte. »Wo bist du?« fragte sie; »wo schaust du hin?«

Er antwortete: »Ich bin bei dir.

Bis in deine letzten Gedanken?[294]

Ich weiß nicht, ob bis in die letzten Gedanken. Ich kenne meine letzten Gedanken nicht.

Ich will dich aber ganz. Mit jedem Atemzug. Ich habe dich nicht ganz.«

»Und du,« fragte Christian ausweichend, »bist du denn ganz bei mir?«

Sie antwortete leidenschaftlich und mit herrschsüchtigem Lächeln, indem sie sich über ihn warf: »Du gehörst mir mehr, als ich dir gehöre.

Warum?

Erschrickst du? Bist du geizig mit dir? Ja, du gehörst mir mehr. Ich habe dich entzaubert. Ich habe deine steinerne Seele aufgeweicht.«

»Meine Seele aufgeweicht ...« wiederholte Christian verwundert.

»Gewiß, Liebling, weißt du nicht, daß ich eine Zauberin bin? Ich habe Gewalt über den Fisch im Wasser, das Pferd auf der Erde, den Geier in der Luft und die unsichtbaren Daevas, wie es in der persischen Schrift heißt. Ich kann mit dir machen, was ich will, und du mußt dich fügen.«

»Das ist wahr,« bekannte Christian.

»Aber deine Seele schaut mich nicht an,« fuhr Eva, ihn umschlingend, fort, »es ist eine fremde Seele, eine dunkle, feindliche, unbekannte.«

»Vielleicht mißbrauchst du die Gewalt, die du über sie hast, und sie wehrt sich.«

»Sie soll gehorchen, nichts weiter.«

»Vielleicht ist sie deiner nicht ganz sicher.«

»Ich kann ihr nur die Sicherheit der Stunde geben. Die Stunde selbst liegt in ihrer Macht.«

»Was hast du vor?«

»Frag mich nicht. Laß mich nicht aus deinen Gedanken, nicht eine Sekunde lang aus deinem Gefühl, sonst haben wir uns verloren. Halt mich fest mit deiner ganzen Kraft.«[295]

Christian antwortete: »Es kommt mir vor, als sollt ich wissen, was du meinst. Aber ich will es nicht wissen. Sieh mal, ich ... du ... es ist alles zu gering;« er schüttelte den Kopf, »alles zu gering.«

»Was willst du damit sagen: alles zu gering?« rief Eva erschrocken. Sie hatte beide Hände um seine Rechte gepreßt und sah gespannt in sein Gesicht.

»Alles zu gering,« beharrte Christian, als fände er keine andern Worte.

Er überdachte das Gehörte und Gesagte noch einmal mit der ihm eignen Skepsis und Hartnäckigkeit, dann stand er auf und sagte der Freundin gute Nacht.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 293-296.
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