21

[314] Christian und Amadeus gingen über den Damm gegen Duinbergen.

»Ich habe Ihnen eine Eröffnung zu machen, Wahnschaffe,« begann Amadeus Voß; »ich habe gespielt. Ich habe drüben in Ostende beim Roulett gespielt.«

»Man hat mir davon erzählt,« antwortete Christian zerstreut. »Natürlich haben Sie verloren?«[314]

»Der Teufel ist mir erschienen,« sagte Amadeus dumpf.

»Wieviel haben Sie verloren?« fragte Christian.

»Sie denken vielleicht an irgendeinen verfeinerten Teufel, eine Halluzination, ein poetisches Gehirnprodukt,« fuhr Amadeus in seiner atemlosen und sonderbar feindseligen Weise fort. »Nein, nein, es war ein richtiger, altmodischer Teufel mit Bockskopf und Klauenfüßen. Er sprach zu mir: Nimm von ihrem Überfluß; umkleide dich mit dem Panzer, der unempfindlich macht; laß dich nicht einschüchtern, laß dich nicht vom Hauch ihrer frechgeschmückten Welt in die wolkige Enge deiner Qualen treiben. Und mit seinen kundigen Fingern lenkte er die kleine hüpfende Kugel für mich. Das Licht der Lampen schrie, von den Wangen der Weiber fiel die Schminke ab, über zitternde Bärte rann der Geifer schmutziger Habgier. Ich gewann, Christian Wahnschaffe, ich gewann. Zehntausend, zwölftausend, ich weiß nicht mehr, wieviel. So ein Tausendfrankschein sieht aus wie ein verwaschener Fahnenfetzen. Blendende Säle, Treppen, Gärten, weißgedeckte Tische, Champagnerkübel, Austernplatten, ich ziehe Luft in die Lungen, ich lebe, ich bin Herr. Wildfremde Bursche beglückwünschen mich, schenken mir die Ehre ihrer Gesellschaft, tafeln mit mir, gesiebte Leute, adrette Leute, ehrenwerte Leute. Im Hotel de la Plage verwandelte sich mein bocksfüßiger Teufel endlich in ein würdiges Symbol; er wurde zu einer Spinne mit einem ungeheuren Ei zwischen den Füßen, und daran saugte er, unersättlich. Gallerte, die anschwillt, um vor Wonne zu platzen.«

»Ich glaube, Sie sollten zu Bett gehen und sich ausschlafen,« sagte Christian trocken. »Wieviel haben Sie also schließlich verspielt?«

»Ja, ich bin ein wenig übernächtig,« gestand Amadeus Voß. »Wieviel ich verspielt habe? Vierzehntausend sind es ungefähr. Der Fürst Wiguniewski hat mir das Geld vorgeschossen. Er meinte, Sie würden es ihm schon zurückgeben. Ein vornehmer[315] Mann; alle Achtung. Kein Muskel zuckt in seinem Gesicht, wenn er höflich ist; nichts an ihm verrät, daß er den Proletarier wittert.«

»Ich werde die Angelegenheit mit ihm regeln,« sagte Christian.

»Es genügt nicht, Wahnschaffe, es genügt nicht,« antwortete Voß mit bebender Stimme.

»Warum genügt es nicht?«

»Ich muß weiterspielen. Ich muß es hereinbringen. Ich will Ihr Schuldner nicht sein.«

»Sie werden es immer tiefer werden, Amadeus. Aber ich möchte Sie nicht hindern, wenn Sie sich entschließen, eine Grenze zu bestimmen.«

Amadeus Voß stieß ein Gelächter aus. »Ich wußte, daß Sie großmütig sein würden, Christian Wahnschaffe. Nur immer weiter hinein den Stachel in die Wunde, nur immer weiter.«

»Ich verstehe Sie nicht, Amadeus,« sagte Christian ruhig. »Fordern Sie Geld von mir, soviel Sie wollen; aber es wäre mir lieber, Sie forderten es nicht für diesen Zweck.«

»Großmütig gesprochen, wahrhaft großmütig,« höhnte Voß. »Wie aber, wenn mir gerade daran liegt, keine Grenze einzuhalten? Wenn mir daran liegt, die bettelhafte Scham loszuwerden und mich als Räuber zu erklären? Würden Sie mich verleugnen?«

»Ich weiß nicht, was ich tun würde,« entgegnete Christian. »Ich würde Sie vielleicht zu überzeugen suchen, daß Sie unbillig handeln.«

Diese nüchternen und einfachen Worte machten sichtlich Eindruck auf Amadeus Voß. Er senkte den Kopf, und nach einer Weile sagte er: »Es ist herzzermalmend, dies Warten, bis die kleine Kugel zu hüpfen aufhört und der Femrichter den Spruch verkündet. Das verwaschene Tausendfrankfähnchen knistert heran, oder ein runder Turm von Goldstücken[316] kommt auf einer Schaufel gefahren. Ich habe mir eine Zahl in den Kopf gesetzt. Ich teile acht Buchstaben in drei und fünf. Ein Vorname, ein Zuname. Einmal gewann ich siebzehnhundert auf einen Coup damit, ein andermal dreitausend. Sie dürfen mich nicht im Stich lassen, Wahnschaffe. Auch ich habe eine Seele. Drei und fünf, das ist mein Problem. Ich werde die Bank sprengen. Ich werde dreimal, zehnmal hintereinander die Bank sprengen. Es ist möglich, es kann also geschehn. Würde ›drei und fünf‹ einem Wolkenbruch von Gold widerstehen? Würde Danae den Perseus von sich weisen, oder würde sie verlangen, daß er ihr zuerst das Haupt der Gorgo bringt?«

Er verstummte jäh, da Christian den Arm um seine Schulter legte, eine Vertraulichkeit, die ihm so neu und unerwartet war, daß er tief aufatmete wie ein Kind im Schlaf. »Denken Sie doch an das Vergangene, Amadeus,« sagte Christian; »denken Sie doch an Ihre Worte, wie Sie zu mir sagten: Es ist möglich, daß Sie mich brauchen, gewiß aber ist, daß ich ohne Sie verloren bin. Haben Sie schon vergessen? Hast du es schon vergessen, Amadeus?«

Amadeus fuhr zusammen unter dem Du. Er ergriff plötzlich, stehenbleibend, Christians Hände und stotterte: »Um Gottes willen, so hat noch keiner ... so hat keiner noch zu mir geredet.«

»Du darfst es nicht vergessen, Amadeus,« sagte Christian leise.

Schwäche befiel Amadeus Voß. Er schaute sich mit unsteten Augen um und sah hinter sich einen niedern Betonpflock zum Befestigen der Schiffsseile. Er setzte sich auf den Stein und wühlte das Gesicht in die Hände. Dann begann er, durch die Hände hervor: »Sieh mal, Bruder, ich bin ein verprügelter Hund. Das bin ich und nichts sonst. Mir ist, als ob ich zu lange an einer kalten, harten, getünchten Kirchenwand gestanden hätte. Es ist mir stets eine Kälte in Mark und Bein sitzengeblieben, und ich will mich durch dieses fatale Gefühl nicht unterkriegen lassen. Ich denke oft, ich möchte einmal bei einem Weibe sein. Ich kann nicht leben ohne Liebe. Und[317] ich lebe doch immerfort ohne Liebe, Tag für Tag. Immerfort ohne Liebe. Die verdammte Mauer ist mir zu kalt, ich kann, ich mag, ich will nicht ohne Liebe leben. Ich bin nur ein Mensch, und ich muß zu einem Weibe, sonst erfriere ich oder ich versteinere, oder ich bin verdonnert. Ich bin ein Christ, und als Christ ist es schwer, zu einem Weib zu gehen, wenn man ein gewisses Bild im Herzen hat. Hilf mir zu einem Weibe, Bruder, ich bitte dich darum.«

Christian blickte auf das dunkle Meer hinaus. Wie ist da zu helfen? dachte er und empfand die ganze Kälte der Welt und die Verworrenheit der menschlichen Dinge.

Während er so stand und sann, vernahm er, aus der Ferne, von den Dünen herschallend, einen Schrei, wie ihn ein Mensch in höchster Bedrängnis, ja in Todesnot ausstößt. Auch Amadeus Voß erhob den Kopf und lauschte. Sie sahen einander an.

»Wir wollen hingehen,« schlug Christian vor.

Sie gingen der Richtung nach, aber der Damm war verödet, ebenso der Strand und die Dünen. Noch dreimal hörten sie den Schrei, dumpfer, dann wieder heller, näher, dann wieder ferner; ihr Suchen, Lauschen und schnelles Wandern war vergeblich. Als sie den Rückweg antraten, sagte Voß: »Es war kein Menschenschrei. Es war ein Etwas in der Natur, ein Zeichen. Es war ein Geisterruf. Das kommt vor, und nicht so selten, wie man denkt. Es ruft uns irgendwohin. Einer von uns zweien ist gerufen worden.«

»Mag sein,« erwiderte Christian lächelnd, dessen Sinn für Wirklichkeit solche Deutungen nur im Scherz zuließ.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 314-318.
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