23

[323] Als Christian am Tag nach der nächtlichen Wanderung zu Eva kam, fand er zu seiner Überraschung viele Menschen bei ihr, Russen, Engländer, Franzosen, Belgier. Bis zu diesem Tag hatte sie sich der Geselligkeit fast ganz entzogen oder sich ihr nur in Stunden gewidmet, die zwischen ihr und Christian vorher vereinbart waren. Die unerwartete Veränderung machte ihn selbst zum Gast, indem sie ihn zugleich aus dem Mittelpunkt an die Peripherie schob.

Es wurde von der Ankunft des Grafen Maidanoff gesprochen, und ein allgemeiner Austausch von Mutmaßungen war im Zug, sowohl über die Dauer seines Aufenthalts wie auch über den Zweck. Politische Kulissen wurden mit bewußter Heuchelei aufgestellt: Besuch beim König, Besprechung mit Ministern. Er hatte zuerst im Hotel Lettoral in Knocke gewohnt, war aber alsbald in die weitläufige und prachtvolle Villa Herzynka übersiedelt, die sein Günstling und Freund Fjodor Szilaghin gemietet hatte.

Szilaghin erschien bald nach Christian. Wiguniewski, offensichtlich hierzu beauftragt, machte sie miteinander bekannt.

»Ich sehe morgen abend einige Freunde bei mir,« sagte Szilaghin mit der ihm eigenen Artigkeit eines großen Komödianten, »ich hoffe, Sie erweisen mir die Ehre zu kommen.« Er musterte Christian kalt, und Christians Nerven spannten sich gepeinigt unter diesem Blick. Er verbeugte sich und beschloß, nicht hinzugehen.[323]

Eva war im Balkonzimmer und posierte der Bildhauerin Beatrix Vanleer. Diese saß mit einem Zeichenblock vor ihr und entwarf Skizzen. Währenddessen plauderte Eva lebhaft mit einigen Herren. Sie reichte Christian die Hand zum Kuß. Seinen fragenden Blick beachtete sie nicht.

In einem zimtfarbenen Kleid mit hoher Frisur, die von einem Elfenbeindiadem gekrönt war, erschien sie ihm außerordentlich fremd. Ihr Gesicht war wie aus Email. Im Kinn drückte sich Feindseliges aus. Zarte Vibrationen der Schläfenmuskeln berührten wie Anzeichen inneren Sturms. Aber diese Wahrnehmung verflüchtigte sich wieder. Hauptsächlich war es eine lähmende Kälte, die um sie strömte.

Als die Bildhauerin fertig war, ging Eva im Gespräch mit einer jungen Fürstin Helfersdorff auf und ab. Sie führte sie auf den Balkon, der in Sonne gebadet lag, dann in ihr Boudoir, in welchem sie sich aufzuhalten liebte, wenn sie las oder von ihren Übungen ruhte. Er folgte den beiden Frauen gequält. Er fühlte, daß er sich demütigte. Er fühlte es zum erstenmal in seinem Leben. Aber es schlug ihn nicht so nieder, wie es, vielleicht vor einer Stunde noch, der Gedanke an die Möglichkeit einer Demütigung getan hätte.

Der Marques Tavera trat zu ihm. Auf der Schwelle des Boudoirs stehend, sprachen sie nichtige Dinge. Christian hörte, wie Eva der jungen Fürstin erzählte, daß sie in einer Woche nach Hamburg fahren werde; der Norddeutsche Lloyd feiere gelegentlich des Stapellaufs eines Riesendampfers ein Fest, und man habe sie eingeladen, zu tanzen. »Ich freue mich eigentlich darauf,« fügte sie heiter hinzu; »den Deutschen bin ich immer noch ein bloßer Name. Sie werden mich examinieren und mir endlich sagen, was ich kann und wohin ich gehöre.«

Die junge Dame blickte die Tänzerin begeistert an. Christian dachte: ich muß sogleich mit ihr sprechen. In jedem Wort, das Eva sprach, fühlte er etwas Feindseliges und Spöttisches gegen sich. Er ließ Tavera stehen und trat in das Gemach.[324] Die Entschiedenheit seiner Bewegung nötigte Eva, ihn anzuschauen. Sie lächelte verwundert; ein kaum merkliches Achselzucken drückte Befremden und Tadel aus.

Der Marques Tavera hatte sich an die Fürstin gewandt, und als die beiden sich anschickten, das Zimmer zu verlassen, schien Eva ihnen folgen zu wollen. Eine Geste Christians, die sie, von der Tür zurückblickend, wahrnahm, bestimmte sie, zu bleiben. Christian schloß die Tür, und Evas Miene wurde immer verwunderter. Aber er spürte, daß diese Verwunderung Komödie war. Er geriet in Verlegenheit und wußte nicht, was er sagen sollte.

Eva ging auf und ab und betastete hie und da einen Gegenstand. »Nun?« fragte sie und sah ihn kalt an.

»Dieser Szilaghin ist mir unerträglich,« murmelte Christian mit gesenktem Blick. »Ich erinnere mich, ich sah einmal in einem Aquarium ein regenbogenfarbiges Meertier, wunderschön, aber zugleich grauenhaft. Ich konnte das Bild nicht los werden. Ich hatte immerfort Lust wieder hinzugehen und immerfort dasselbe häßliche Grauen.«

»O lala,« sagte Eva; weiter nichts. In dem leisen Ausruf lag Geringschätzung, Ungeduld und Neugier. Dann blieb sie stehen. »Ich liebe nicht, daß man mich arretiert,« sagte sie hart. »Ich liebe nicht, daß man mich unter meinen Gästen abfängt, um mir Dinge mitzuteilen, die uninteressant sind. Verzeih, aber es interessiert mich nicht, welchen Eindruck Fjodor Szilaghin auf dich macht; oder genauer gesagt: es interessiert mich nicht mehr.«

Christian schaute sie stumm an. Er erschien sich geschlagen, gezüchtigt und wurde leichenblaß. Das Gefühl der Demütigung wuchs wie ein Fieber. »Er hat mich für morgen in sein Haus gebeten,« stammelte er. »Ich wollte dir nur sagen, daß ich nicht gehen werde.«

»Du wirst gehen,« entgegnete Eva rasch; »ich bitte dich, zu gehen.« Seinem erstaunt fragenden Blick ausweichend,[325] fuhr sie fort: »Maidanoff wird dort sein. Ich wünsche, daß du ihn siehst.«

»Aus welchem Grund?«

»Du sollst wissen, wozu ich greife, was ich tue, wohin ich gehe. Kannst du in Gesichtern lesen? Ich glaube nicht. Immerhin, komm nur.«

»Was hast du beschlossen?« fragte er schwerfällig und scheu.

Sie schüttelte sich vor Ungeduld. »Nichts, was nicht schon längst beschlossen war,« antwortete sie mit einer klirrend hellen Stimme; »dachtest du denn, ich wollte unsern schönen wilden Mai aus spinnen bis zu einem trübseligen November? Die Deutlichkeit von gestern hättest du dir schenken können. Der Traum war zu Ende, und für dich keinen Augenblick früher als für mich. Das mußtest du wissen, und wenn du es nicht gewußt hast, mußtest du dich benehmen, als wüßtest dus. Ein Mann von Geschmack und Welt wirst nicht die Karten auf den Tisch, während der Partner den letzten Einsatz wagt. Du verdienst nicht einen ehrlichen Abschied, wie ich ihn dir gebe. Ich hätte dich an die Paradekette legen und dich aushungern sollen wie die dummen, kleinen Bestien, die mir beständig vorwinseln, daß sie bereit sind, sich für mich zu ruinieren. Sie nennen es ihre Leidenschaft; ein Feuer wie jedes andre, aber ich möchte mir nicht einmal die Kerze daran anzünden, wenn ich Licht brauche, um mir die Schuhe aufzuschnüren.«

Sie hatte die Arme verschränkt, lachte leise und schritt zur Tür.

»Du hast mich mißverstanden,« sagte Christian bestürzt, »du mißverstehst mich gänzlich.« Er trat ihr mit schwach erhobenen Händen in den Weg. »Begreifst du denn nicht? Hätt ich nur die Worte, ... aber ich liebe dich ja. Ich kann mir ja das Leben ohne dich noch gar nicht vorstellen. Trotzdem, wie soll ichs nur sagen, mir ist wie einem, der ungeheure Summen schuldig ist und fortwährend darum gequält und gemahnt wird und nicht weiß, womit er zahlen soll und wem[326] er zahlen soll. Versteh mich doch recht, ich war übereilt, aber ich dachte, du könntest mir helfen.«

Es war ein Schrei aus der Not, aber Eva hörte ihn nicht und wollte ihn nicht hören. Sie hatte ihr Gefühl im höchsten Bogen ausgespannt; als er brach, war ihr jede Tiefe zu gering, in die sie die Trümmer schleuderte. Sie hatte keine Ohren mehr; sie hatte keine Augen mehr. Sie hatte über ihr Schicksal schon entschieden; und fürchtete sich vor dem Schritt nach vorn, der Schritt zurück ging gegen ihren Stolz und gegen ihr Blut. Eine souveräne Geste schnitt Christian die Rede ab. »Genug,« sagte sie. »Von allem Häßlichen, was es zwischen Menschen gibt, sind Auseinandersetzungen über ein Gefühl das Häßlichste. Ich habe keinen Sinn für Hypochondrien, und mich langweilen Epiloge. Was deine Gläubiger betrifft, so sieh zu, daß du sie kennenlernst und bezahlst. Es ist peinlich, mit rückständigen Rechnungen zu wirtschaften.«

Damit verließ sie das Zimmer.

Christian blieb stehen, senkte langsam den Kopf und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 323-327.
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