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[376] Lorm und Judith bewohnten eine prunkvolle Etage im Berliner Tiergartenviertel.

Edgar Lorm blühte auf. Ordnung und Regel beherrschten sein Leben. Mit kindlicher Ruhmredigkeit sprach er von seinem Heim. Sein Direktor und Freund, der Doktor Emanuel Herbst, beglückwünschte ihn zu der Verjüngung, die an ihm bemerkbar wurde.

Menschen, die ihm seit langem etwas galten, führte er Judith vor. Sie äußerte sich über die meisten mit liebloser Schärfe. Ihr Wahnschaffescher Hochmut verscheuchte Gutmeinende. Aus Bequemlichkeit unterwarf sich Lorm, der Vielumworbene, ihrem Urteil.

Nur Emanuel Herbst gab er ihr nicht preis. Als Judith über ihn spottete, über seinen wackligen Gang, seine Häßlichkeit, seine lächerlich dünne Stimme, seine geschmacklosen Kalauer, erwiderte er ernst: »Ich kenne Herbst seit mehr als zwanzig Jahren. Was dich an ihm stört, ist mir genau so lieb wie die Eigenschaften, die ich an ihm schätzen gelernt habe und von denen du noch nichts weißt.«

»Er ist sicher ein Ausbund von Tugend,« versetzte Judith, »aber er langweilt mich über die Maßen.«

Lorm sagte: »Man muß sich an den Gedanken gewöhnen, daß die andern Menschen nicht immer zu unserm Vergnügen da sind. Du stehst zu einseitig auf dem Luxus- und Verbrauchsstandpunkt. Es gibt an Männern eine Qualität, die ich höher anschlage als Schönheit und aristokratische Manieren: das ist Verläßlichkeit. Die Leute, mit denen man in meinem Beruf zu tun hat, entziehen sich den bürgerlichen Pflichten, namentlich der Pflicht, ein gegebenes Wort zu halten, mit einer Ruhe und Frivolität, die einem den Ekel bis an den Hals treibt. Da ist es mir unendlich wertvoll und ich kann es Herbst nicht genug danken, daß das Verhältnis zwischen[377] uns ohne den Schatten eines Mißtrauens und jedes Ja und Nein so gültig und unumstößlich ist wie ein geschriebener Vertrag.«

Judith erkannte, daß sie Herbst gegenüber ihre Taktik ändern mußte. Sie spielte die Liebenswürdige und Bekehrte und warb geschmeidig um Gunst. Der kluge Doktor Herbst durchschaute sie, ließ es sie jedoch nicht merken und behandelte sie mit ritterlicher Artigkeit, die altmodisch wirkte und hinter der er seine Vorbehalte verbarg.

Manchmal saß sie abends in Gesellschaft der beiden Männer und beteiligte sich an Fachgesprächen über Dichter und Theaterstücke, Komödianten und Komödiantinnen, Erfolge und Mißerfolge. Während sie aufmerksam schien oder eine Frage einwarf, dachte sie an die Schneiderin, an die Köchin, an die Wochenrechnung, an das frühere, versunkene, völlig andersgeartete Leben, und ihre Augen blickten hart.

Es kam vor, daß sie mit erbitterter Miene durch die Zimmer ging und sich an allen Dingen feindselig maß. Da haßte sie die vielen Spiegel, deren Lorm bedurfte, die vorgestern gekauften Teppiche, die prunkvollen Möbel und Gemälde, die zahllosen Bibelots, Photographien, Schmuckgeräte, Bücher und pietätvoll bewahrten Erinnerungsstücke.

Sie hatte nie in Häusern gewohnt, wo Mietsparteien über den Köpfen und unter den Füßen durch ihr widrig-unbekanntes Dasein störten. Erbittert lauschte sie den Geräuschen und dünkte sich zu einer Kasernenexistenz erniedrigt.

Es war nicht ihr Element, jeden Morgen zu warten, bis sich der Herr vom Lager erhob; zu sorgen, daß beim Frühstück nichts mangelte; beiseite zu stehen, bis der Barbier, der Masseur, der Chauffeur, der Theaterdiener, die Sekretärin ihre Weisungen erhalten und abgefertigt waren; wieder zu warten, bis er müde, verstimmt und ausgehungert von der Probe kam, und ihm beim Essen zuzusehen, das er lecker und reich zu haben wünschte, und das er hinunterschlang wie einen[378] Fraß; ihm Lärm und Besuch fernzuhalten, wenn er memorierte; von Fremden ans Telephon gefordert zu werden, Auskünfte zu erteilen, Einladungen abzusagen, Lästige fortzuschicken, Ungeduldige zu vertrösten. Es war nicht ihr Element, aber sie bezwang sich, so wie sie sich bezwungen hatte, als man ihr die Nadel durch den Arm gestochen hatte.

Emanuel Herbst, scharfer Beobachter und beinahe gelehrter Kenner der menschlichen Natur, zergliederte für sich im stillen das Verhältnis zwischen den beiden Gatten. Er sagte sich: Lorm hält ihr nicht, was sie sich von ihm versprochen hat, so viel ist klar; sie hat geglaubt, ihn schälen zu können, wie man eine Zwiebel schält, so daß sie beständig etwas Überraschendes und Neues in die Hand bekam, hinreichend, sie für alles zu entschädigen, was sie aufgegeben hat. Sie wird bald begreifen, daß ihre Rechnung falsch war; denn Lorm bleibt derselbe; Lorm bleibt sich selber gleich; ihn kann man nicht schälen. Er trägt nur Kostüme, er schminkt sich nur. Eben dies Vermögen, leere Gefäße immer wieder mit schönem Inhalt zu füllen und selbst nichts weiter zu sein als bescheidener Diener seiner Sache, macht sie ihm zum Vorwurf, und je mehr er in ihren Augen schuldig wird, je mehr Macht wird sie über ihn gewinnen. Denn er ist müde. Ohne Zweifel ist er der Bezwungenen müde, der Anbeter und Lobhudler, der Süßigkeiten und Erleichterungen des täglichen Lebens, und es verlangt den grenzenlos Verwöhnten, ohne daß er es weiß, nach Ketten und nach einem Wärter.

Dies Ergebnis seines Nachdenkens erfüllte Emanuel Herbst mit Sorge.

Judith aber erinnerte sich ihres Traumes. Wie sie bei dem Fisch gelegen, weil es ihr so gefiel, und wie sie ihn geschlagen, von Wut erfaßt über seine kühlen, feuchten, schlüpfrigen Schuppen, die am Rücken opalisierten.

Und sie lag bei dem Fisch und schlug ihn, der ihr untertänig und mehr und mehr zu eigen wurde.[379]

Ihre beständige Angst war: ich bin arm, verarmt, abhängig und ungesichert. Der Gedanke quälte sie dermaßen, daß sie ihn einmal gegen die Hausdame aussprach. Erstaunt antwortete diese: »Aber der gnädige Herr gibt Ihnen ja neben Ihrem Nadelgeld monatlich zweitausend Mark für die Wirtschaft, wie können Sie sich da solchen Einbildungen überlassen?«

Judith schaute sie mißtrauisch an. Sie war mißtrauisch gegen alle Leute, die sie bezahlte. Wenn sie von Geld redeten, glaubte sie sich schon bestohlen.

Eines Tages kündigte ihr die Köchin; es war die vierte, seit der Haushalt bestand. Vom abgezählten Zucker fehlten zwölf Würfel, deren Verbrauch nicht nachzuweisen war. Es gab einen häßlichen Streit, und Judith bekam Dinge zu hören, die ihr noch niemand zu sagen gewagt hatte.

Die Sekretärin verlegte einen Schlüssel. Als er endlich gefunden war, stürzte Judith zu der Schublade, die er aufschloß, und sah nach, ob von dem Briefpapier, den Bleistiften und Stahlfedern nichts abhanden gekommen sei.

Die Hausdame hatte zwanzig Meter Leinwand gekauft. Judith fand den Preis zu hoch. Sie fuhr selbst in das Geschäft, der Wagen kostete mehr als sie hoffen konnte zu ersparen, und feilschte mit einem Kommis so lange um Ermäßigung, bis man ihr nachgab. Am Abend erzählte sie Lorm triumphierend davon. Er versäumte es, sie zu loben; beleidigt stand sie vom Tisch auf, sperrte sich in ihrem Zimmer ein und legte sich ins Bett. Immer wenn sie Grund zu haben glaubte, ihm zu zürnen, legte sie sich ins Bett.

Lorm kam an ihre Türe, pochte leise, bat, sie möge ihm öffnen. Sie ließ ihn eine Weile stehen, damit er Zeit habe, zu bereuen, dann öffnete sie. Sie mußte ihre Heldentat noch einmal erzählen, und er hörte mit reizender Neugier zu; dann sagte er: »Du bist ein Juwel« und liebkoste ihre Hand und ihre Wange.[380]

Es konnte aber geschehen, daß sie für Gegenstände, nach denen sie begehrte, Summen ausgab, die in unsinnigem Mißverhältnis zu den mühseligen kleinen Sparkünsten standen. Sie sah einen Hut, ein Kleid, einen Schmuck in einer Auslage, konnte sich von dem Anblick nicht mehr losreißen, ging in das Geschäft und erlegte, ohne zu feilschen, den geforderten Preis.

Eines Tages besuchte sie eine Auktion und kam gerade dazu, wie eine Alt-Wiener Konfektschale ausgeboten wurde, eines jener Stücke, die, obwohl äußerlich unansehnlich, das Entzücken der Sammler sind. Zuerst reizte sie der Gegenstand gar nicht, dann aber erregten die hohen Gebote ihre Aufmerksamkeit, und sie begann selbst zu bieten. Sie entflammte sich, bot und überbot und schlug endlich die Mitbewerber aus dem Feld.

Erhitzt kam sie nach Hause und stürmte in Lorms Arbeitszimmer. Emanuel Herbst befand sich bei Lorm; sie saßen beide am Kamin und pflogen eine vertrauliche Unterhaltung. Judith übersah Herbsts Anwesenheit; sie blieb dicht vor Lorm stehen, packte die Porzellanschale aus der Hülle und sagte: »Da sieh mal, Edgar, was ich Herrliches erwischt habe.«

Es war schon Abend, Lorm hatte aber noch kein Licht angezündet, denn er liebte die Dämmerung und liebte, wenn es dunkel wurde, den Schein des Kaminfeuers, der hier allerdings nur eine großstädtische Nachahmung von Holzfeuer war. Beleuchtet von der gesättigt roten, schwimmenden Reflexglut nahm sich Judith in ihrer Freude und Bewegtheit wundervoll aus.

Lorm griff nach der Schale, betrachtete sie mit höflichem Interesse, drehte sie um und um, warf die Lippen ein wenig auf und sagte: »Hübsch.« Herbsts Gesicht, wie der Mond, zeigte zahllose ironische Falten und Fältchen.

Judith wurde böse. »Hübsch? Siehst du nicht, daß es eine kleine Zauberei ist, ein süßer Traum? das Pikanteste und Rarste? Die Kenner waren außer sich. Weißt du,[381] was es gekostet hat? Achtzehnhundert Mark; dabei waren sechs oder sieben wütende Konkurrenten hinter mir her. Hübsch!« Sie lachte hart. »Gib mirs wieder, du faßt es ja so roh an.«

»Beruhige dich, mein Schatz, es ist ja wirklich eine subtile Sache,« erwiderte Lorm sanft.

Aber Judith war gekränkt, mehr durch Herbsts stummen Spott als durch Lorms Unverständnis. Sie warf den Kopf zurück, rauschte aus dem Zimmer und knallte die Türe hinter sich zu. Im Zorn waren ihre Manieren manchmal ein bißchen gewöhnlich.

Die Männer schwiegen eine Weile. Dann sagte Lorm, betreten und mit entschuldigendem Lächeln: »Süßer Traum ... achtzehnhundert Mark ... na ja. Kindisches Geschöpf.«

Emanuel Herbst scheuerte mit der Zunge den Raum zwischen Lippen und Zähnen, was ihm Ähnlichkeit mit einem steinalten Säugling verlieh. Er sagte: »Du solltest ihr gelegentlich klarmachen, daß achtzehnhundert Mark eintausendachthundertmal eine Mark sind.«

»Sie kommt nicht so weit, denn sie fängt mit den Pfennigen an,« antwortete Lorm. »Ein Mensch, der beständig auf dem Meer gelebt hat und plötzlich auf einen kleinen Binnensee versetzt wird, findet sich in den Maßen und Entfernungen schwer zurecht. Es sind wunderliche Wesen, die Frauen.« Er seufzte lächelnd. »Direktor, ein Schnäpschen?«

Doktor Herbst wiegte sorgenvoll den Cäsarenkopf. »Warum denn wunderlich? Sie sind so oder so, und man muß sie so oder so behandeln. Man darf sich nicht über das Material täuschen, das man in der Hand hat. Zum Exempel: ein Hufeisen ist kein Birkenholz; obschon es aussieht wie ein Bogen, kannst du es nicht biegen, mit aller Kraft nicht. Bindest du eine Sehne dran, so bleibt sie schlaff, und der Pfeil schnellt nicht ab. Na, schenk ein das Schnäpschen.«

»Dafür macht man aus einem Hufeisen unter Umständen[382] den besten Damaszenerstahl,« gab Lorm heiter zurück und schenkte ein.

»Bravo. Gut repliziert. Geschmeidig wie Kardinal Richelieu. Dein Wohl.«

»Machst du mich zu Richelieu, so ernenn ich dich zu meinem Pater Joseph. Famose Rolle übrigens. Dein Wohl, graue Eminenz.«

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 376-383.
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