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[66] »Ich habe Sie nicht aus den Augen verloren,« sagte Becker; »Alexander Wiguniewski schrieb mir von Ihnen und daß Sie sich veränderte Umstände geschaffen hätten. Seine Andeutungen klangen konfus. Ich beauftragte Freunde in Berlin, sich nach Ihnen zu erkundigen. Da hörte ich dann Genaueres.«

Sie saßen in einer Weinstube im Limmatviertel. Sie waren die einzigen Gäste. Von der verräucherten Decke hing ein Hirschgeweih herab, an dem die Glühbirnen malerisch befestigt waren.

Becker trug eine hochgeschlossene dunkle Litewka. Er sah ärmlich und leidend aus. Sein Wesen hatte eine unbezeichenbare Flüchtigkeit. Manchmal breitete sich eine traurige Ruhe über seine Züge, ähnlich der Ruhe über den Wellen, wenn ein Schiff versunken ist. In Momenten des Schweigens vergrößerte sich sein Gesicht, und er blickte vor sich hin, in eine Leere außen, in eine Flamme innen.[66]

»Stehen Sie noch in Verbindung mit Wiguniewski und den ... andern?« erkundigte sich Christian mit einer zarten Entschuldigung im Blick für sein sich gleichbleibendes unpersönliches Benehmen.

Becker schüttelte den Kopf. »Die früheren Freunde haben sich von mir abgewandt,« erwiderte er. »Innerlich bin ich noch immer mit ihnen verwachsen, aber ich teile ihre Anschauungen nicht mehr.«

»Muß man denn unbedingt die Anschauungen seiner Freunde teilen?« warf Christian ein.

»Insofern sie sich auf das Lebensziel beziehen, gewiß. Es hängt auch von dem Grad der Liebe ab. Ich habe versucht, sie für mich zu gewinnen, doch fehlte mir die dazu nötige Spannkraft. Sie verstehen es einfach nicht. Und jetzt meldet sich das Bedürfnis, einen Menschen aufzurütteln und zu erwecken, nur dann bei mir, wenn er seine Torheit in polemische Form kleidet oder wenn ich mich ihm so nahe fühle, daß jede Dissonanz mir den Frieden raubt und das Herz bedrückt.«

Christian achtete weniger auf den Sinn der Worte als auf den ihn bezaubernden Tonfall, die Weichheit der Stimme, den eindringlichen und trotzdem verlorenen Blick, die krankhaft leidenden Züge. Er dachte: Alles, was sie über ihn sprechen, ist Lüge. Vertrauen erfüllte ihn.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 66-67.
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