21

[87] Der süßlich girrende Walzer hob an. Amadeus Voß bestellte Sekt. »Trinken Sie, Lucile,« sagte er, »trinken Sie, Ingeborg, das Leben ist kurz, das Fleisch will seine Lust, was[87] nachher kommt, ist höllisches Entsetzen.« Er lehnte sich im Sessel zurück und verkniff den Mund.

Die beiden, im extravaganten Berliner Kokottenstil gekleideten Dramen kicherten. »Er ist doch gar zu verrückt, unser Doktorchen,« sagte die eine. »Was phantasiert er denn da wieder? Ists unanständig oder gruselig? Man weiß nie recht.«

Die andre bemerkte abschätzig: »Hat pikfein diniert, raucht ne Henry Clay, befindet sich in entzückender Gesellschaft und schwatzt von höllischem Entsetzen. Dazu brauchen Sie doch uns nicht und das Esplanade auch nicht. Pfui, solch Ausdruck überhaupt. Ermannen Sie sich, Mensch! Seien Sie 'n bißchen liebenswürdig, bißchen normal, bißchen hopsassa.«

Sie lachten beide. Voß blinzelte gelangweilt. Der süßlich girrende Walzer schloß mit unerwartetem Lärm. Nackte Hälse und Schultern, verblühte Jünglingsgesichter und verweste Greisengesichter verschwammen im Tabaksqualm zu perlmuttrigem Geflimmer. Von der Straße kamen Hotelgäste, die halb fremd, halb gierig in den Lichtüberfluß starrten; zuletzt ein junges Mädchen, das bei der Drehtür stehenblieb. Amadeus Voß sprang empor. Er hatte Johanna Schöntag erkannt.

Er ging auf sie zu und verbeugte sich. Sie, überrumpelt, grüßte mit voreiligem Lächeln, das sie bedauerte. Er stellte Fragen. Sie zuckte in der Taille zusammen, als breche dort etwas. Kalt maß sie ihn, erinnerte sich eines früheren Schauders, schauderte wieder. Ihr Gesicht war noch unschöner geworden, die Anmut über dem ganzen Wesen bezwingender.

Sie sagte, sie sei seit zwei Tagen in Berlin; im Hotel wohne sie noch bis morgen, dann ziehe sie zu ihrer Cousine, die im Tiergarten wohne.

»Also reiche Verwandte?« warf Voß taktlos ein. Er lächelte gönnerhaft und fragte, wie lange sie in dieser aufregenden Stadt zu bleiben gedenke.[88]

Wahrscheinlich den ganzen Herbst und Winter über, antwortete sie. Aufregend? davon spüre sie nichts; ermüdend und trivial, das ja.

Ob er das Vergnügen haben werde, sie bald zu sehen? Wahnschaffe, wüßte er, daß sie hier sei, ließe sichs gewiß nicht nehmen, sie aufzusuchen.

Er sprach mit einer zudringlichen, anscheinend frischgelernten Artigkeit und Weltkälte. Johanna zog sich innerlich zurück. Als er Christians Namen nannte, erblaßte sie und spähte hilfesuchend gegen die Treppe. In der Bedrängnis fiel ihr das Verschen ein, zu dem sie bisweilen in peinlichen Umständen ihre Zuflucht nahm: Wenn doch einer käme und mich mitnähme. Da lächelte sie. »Ja, ich will Christian sehen,« sagte sie plötzlich mit Freiheit, und in den Worten lag das mutige Bekenntnis: Deswegen bin ich gekommen.

»Und ich? Was geschieht mit mir?« fragte Voß. »Mich werden Sie links liegen lassen? Kann ich Ihnen nicht irgendwie behilflich sein? Wollen Sie nicht mal einen kleinen Spaziergang mit mir machen? Es gibt ja allerlei zu besprechen ...«

»Nicht daß ich wüßte,« antwortete Johanna mit dem ängstlichen Stirnrunzeln der in die Enge Getriebenen, die sich nicht zu wehren vermag. Um den Lästigen auf gute Manier loszuwerden, versprach sie, ihm zu schreiben. Kaum hatte sie es gesagt, so fühlte sie sich unglücklich darüber; jedes Versprechen hatte etwas Bindendes für sie; sie empfand sich schon wieder als Opfer, und die unheimliche Gespanntheit, die ihr der Mensch erregte, lähmte ihren Willen und reizte sie krankhaft.

Voß fuhr im Auto nach Hause. Es war in ihm nur ein einziger, wühlender, flackernder Gedanke: war sie Christians Geliebte gewesen oder nicht? Diese Frage hatte für ihn eine alles bestimmende Wichtigkeit erlangt seit dem Augenblick, wo er Johanna vor sich gesehen hatte. Es war eine Frage um Besitz und Entbehrung, um Wahrheit und Betrug. Er knüpfte Schlußfolgerungen daran, die seine Sinne entzündeten, Möglichkeiten,[89] bei denen es um das Entweder-Oder des Lebens ging. Er stellte sich Johannas Züge vor und studierte in ihnen wie in einer Geheimschrift. Er sammelte sich zu Argumenten, Zergliederungen und Kunststücken verschlagener Rabulistik. Da trat eine in seinen verdüsterten Kreis, die freche Verschlingungen und Verkettungen verursachte und alle Entscheidungen zu einem Punkte trieb. Er spürte, daß sich Stürme ankündigten, wie er sie noch nie erlebt.

Als er am andern Morgen aus dem Bad kam und sich zum Frühstück setzen wollte, sagte seine Aufwärterin zu ihm: »Das Fräulein Engelschall ist da; sie sitzt drüben im Salon.«

Hastig trank er die Schokolade und ging hinüber. Karen saß an dem runden Tisch und schaute Photographien an, die dort herumlagen; sie hatten alle Christian gehört; es waren Bilder von Freunden und Freundinnen, Landschaften und Häusern, Hunden und Pferden.

Karen trug ein einfaches Kostüm, Rock und Jacke, dunkelblau; die weizengelbe Haarwildnis verschwand unter einem grauen Filzhut, den ein seidenes Band schmückte. Das Gesicht war hager, die Hautfarbe fahl, der Ausdruck finster.

Sie ersparte sich einleitende Wendungen und begann: »Ich komme, weil ich Sie fragen will, ob Sie schon davon wissen. Es könnte ja sein, daß er es Ihnen vorher gesagt hat. Mir hat ers erst gestern gesagt. Sie wissen also nichts? Na, verhüten hätten Sies auch nicht können. Er hat sein ganzes Geld weggegeben. Das ganze Geld, alles, was er hatte, hat er seinem Vater gegeben. Auch das übrige, was ihm jährlich zusteht, ich weiß nicht, wieviel Hunderttausende es sind, will er nicht mehr haben. Auf ein bißchen was hat er sich noch Anspruch vorbehalten. Es reicht gerade zum Nichtverhungern, scheint mir. Wenn ich ihn recht verstanden habe, kann er auch darüber nicht mal frei verfügen. So wie es mit ihm ist, gibts kein Zurück. Das ist bei ihm, wie wenn der Meßner die Glocke geläutet hat; da kann man auch keinen Ton mehr fortnehmen.[90] Man möchte schreien; man möcht sich direkt hinlegen und schreien. Ich sag zu ihm: Mensch, was hast du getan! Drauf macht er ein Gesicht, als wundere er sich, daß man sich über so was aufregen könnte. Nun frag ich Sie: Geht das denn überhaupt? Darf das denn sein? Wird das denn zugelassen?«

Amadeus Voß sprach kein Wort. Sein Gesicht war weiß. Hinter den Brillengläsern loderten gelbe Funken. Ein paarmal strich er mit der Hand über den Mund.

Karen erhob sich und ging auf und ab. »So is es nun,« stieß sie hervor und ließ den Blick mit ingrimmiger Befriedigung durch das Prunkzimmer schweifen; »erst auf dem Bocke droben, dann im Drecke drunten. So gehts. Ich für meinen Teil könnte ja jetzt meinen Schnitt machen. Wenns bloß nicht schon zu spät ist. Vielleicht ists schon zu spät, vielleicht hab ich mirs zu lang überlegt. Man wird ja sehen. Was soll ich schließlich mit dem Gelde. Warten ist vielleicht immer noch das bessere Geschäft.« Sie trat an die andre Seite des Tisches und gewahrte unter den Photographien eine, die sie vorhin nicht gesehen. Es war ein Bild der Frau Richberta Wahnschaffe und zeigte sie im Gesellschaftskleid, geschmückt mit ihrer berühmten Perlenschnur, die, doppelt geschlungen, bis über die Brust herabhing.

Karen griff nach dem Bilde, betrachtete es mit hochgezogener Stirn und sagte: »Wer ist denn die? Sie sieht ihm ähnlich. Wahrscheinlich ists seine Mutter? Ists seine Mutter?« Voß antwortete nicht, nickte nur. Sie fuhr gierig und erstaunt fort: »Die Perlen! Solche Perlen! Daß so was möglich ist! Echte Perlen? Gibts das denn? Die müssen ja wie die Kinderfäuste sein.« Ihre blassen Augen glitzerten heiß, ihre kleinen bösen Unterzähne rieben die Lippe. »Darf ich mirs behalten?« fragte sie. Voß gab keine Antwort. Sie sah sich hastig um, schlug die Photographie in ein Stück Zeitungspapier und schob sie unter ihre Jacke. »Herrgott, Mann,[91] so reden Sie doch einen Ton!« schrie sie Voß brutal an; »Sie haben sich ja zum Erbarmen. Denken Sie denn, mir greift das nicht an die Nieren? Mir doch zu allererst. Sie stehen aber doch auch auf Ihren zwei Beinen wie ein Weibermensch, und die muß oft noch damit arbeiten.« Sie lachte zynisch, warf noch einen Blick auf Voß und durch das Zimmer und ging.

Voß saß noch eine Weile regungslos, strich noch ein paarmal mit der Hand über den Mund, dann sprang er auf und eilte in das Schlafzimmer. Er trat an den Spiegeltisch, auf welchem die Toilettengegenstände lagen, die Christian zurückgelassen hatte, eine kostbare, goldene Garnitur: Bürsten, Kämme, Flaschen mit goldenen Kapseln, goldene Dosen und Behälter mit Salben und Rasierpuder. Alle diese Dinge raffte Voß in größter Hast zusammen und warf sie in einen kleinen Lederkoffer, den er verschloß und im Kasten versperrte. Hierauf kehrte er in den Salon zurück und wanderte mit verschränkten Armen auf und ab, wobei sein Gesicht mehr und mehr verfiel.

Stehenbleibend, bekreuzigte er sich und sprach: »Führe uns nicht in Versuchung und erlöse uns von dem Übel.«

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 87-92.
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