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[118] Das »Dann« ließ Christian keine Ruhe.

Er hatte tagsüber viel gearbeitet; erst um sieben Uhr war er aus dem Physiologischen Institut gekommen, hatte in einer Speisewirtschaft in der Lothringer Straße frugal gegessen, war zu Fuß in die Stolpische Straße gegangen, und hier hatte er sich ermüdet aufs Sofa gelegt und war eingeschlummert.

Als er aufwachte, war es tiefe Nacht. Im Hause regte sich nichts mehr. Er zündete Licht an und schaute auf die Uhr. Es war halb zwölf. Eine Weile besann er sich, dann beschloß er, zu Karen hinüberzugehen. Er war sicher, sie noch wach zu finden; es kam vor, daß sie noch um zwei Uhr Licht hatte. Sie beschäftigte sich seit einiger Zeit mit Stickereien. Sie sagte, sie wolle etwas verdienen. Bisher war es brotlose Arbeit gewesen. Sie mühte sich auch nicht sonderlich um Verwertung.

Er ging über den finstern Hof und stieg im Vorderhaus die drei finstern Stiegen hinaus. Am Gangfenster des dritten Stockes blieb er stehen. Das Fenster war offen; die Nacht war schwül. Seitlich, durch einen Schlund zwischen den toten Mauern zweier Häuser, schwarzangestrichenen Ziegelmauern, ragten Schlöte in die Finsternis. Sie begannen auf der Erde[118] und wuchsen über die Dächer. Oben trugen sie Blitzableiternadeln, und aus manchen qualmte Rauch, der von Feuerglut durchbebt war. Unten war schwarzer Boden, weites Blachfeld mit Bretterzäunen, aufgeschichteten Balken, verstreuten niederen Hütten, Sandgruben, Mörtelgruben, und alles lag still und düster.

Links von der Stiege war die Tür zur Hofmannschen Wohnung. Als er mit seinem Schlüssel die Tür zu Karens Wohnung aufgesperrt hatte, blickte er noch einmal auf jene Tür zurück; er glaubte sich gerufen; es war Täuschung.

Karen lag im Bett. »Was solls denn sein so spät in der Nacht?« murrte sie; »man möchte doch auch seinen Frieden haben.«

»Verzeih,« sagte er höflich, »verzeih, daß ich dich störe; ich dachte, wir könnten noch ein wenig plaudern.«

»Möchte wissen, zu was das soll, das Quasseln in die Nacht hinein.« Sie maß ihn geärgert und lachte durch die Nase.

Er setzte sich auf den Rand des Bettes. »Du mußt mir erzählen, Karen, was nach Adam Larsens Tod geschehen ist,« sagte er. »Es geht mir nicht aus dem Kopf, wie du sagtest: was dann war ... Natürlich man kann sichs ja ungefähr vorstellen. Ich habe ja jetzt Einblick genug in dein Leben, um es ungefähr zu er raten ...«

»Nein, das kannst du nicht erraten,« fiel sie geringschätzigen Tones ein, »das kannst du dir nicht vorstellen. Da könnt ich Gift drauf nehmen.«

»Um so mehr möcht ich, daß du einmal davon sprichst,« drängte er, »du hast gewiß nie davon gesprochen.«

Sie schwieg feindselig. Da wurde ihm plötzlich klar, daß ein beharrlicher Instinkt in ihr sich weigerte, ihn in ihre Welt aufzunehmen, und daß alles, was er bisher getan hatte, nicht hinreichte, das Mißtrauen zu besiegen, das ihr in Blut und Nieren saß. Diese Erkenntnis machte ihn traurig und ratlos.

»Hab mich heut schon um sieben ins Bett gelegt,« sagte sie[119] mit blinzelndem Blick; »es war mir nicht gut. Ich glaube, ich werde krank.«

Christian sah sie an. Er konnte nicht verhindern, daß sein Auge den beunruhigt drängenden Ausdruck behielt.

Karen drückte die Lider zusammen. »Quälen, quälen, quälen,« stöhnte sie.

Erschrocken sagte Christian: »Nicht quälen ... verzeih. Ich gehe ja.«

»Bleib nur.« Sie legte die Wange auf die gefalteten Hände und zog unter der Decke die Knie an den Leib. Ein derber, aber nicht unangenehmer Haut- und Haargeruch strömte von ihr aus.

Es sei ja so gewöhnlich, stieß sie müd und leer vor sich hin, in das Kissen hinein; nicht anders als bei andern. Die so täten, als sei es anders, die lögen einfach. Freilich, viele, um sich interessant zu machen, erfänden allerlei Romane, das könne sie aber nicht. Dazu läge ihr zu wenig am Interessanten. Nein, es sei immer dasselbe. So ganz gemein, ganz schauderhaft gemein, von A bis Z verdreckt. Er solle jetzt nur dableiben. Er solle sich nur wieder hinsetzen. Sie wolle ja erzählen. Herrgott, wenn es denn absolut sein müsse, wolle sie erzählen, obwohl sie nicht wisse, wo sie anfangen solle, es gebe gar keinen Anfang, es sei gar nichts Bestimmtes, nicht die Spur von einem Roman.

Christian setzte sich wieder. »Als Adam Larsen starb, hattest du da nicht einen Weg?« fragte er. »War unter seinen Freunden oder Verwandten keiner, der sich um dich kümmerte und dir half?«

Sie lachte höhnisch. »Ja, Kuchen,« erwiderte sie. »Da bist du glatt auf dem Holzweg. Seine Kollegen wußten kaum was von mir. Zum Begräbnis kam sein Bruder, dem durft ich überhaupt nicht vor die Augen treten. Das war so einer von der Gilde der Ehrsamen, ne goldne Uhrkette auf der Weste und zwanzig Pfennig für die Bedienung. Fremdes Land wars, die[120] Sprache kannt ich nicht, da mußt ich zusehn, daß ich raus machte. An Geld hatte ich so dreißig Franken, mit denen wollt ich mich durchschlagen; war bloß die Frage, wohin. Arbeit zu kriegen, hatte ich ein paarmal versucht. Aber was sollt ich denn arbeiten? Hatte ja nie was gelernt. Als Magd in Stellung gehn? Wieder Stiefel putzen und Stuben scheuern? Danke gehorsamst. Hatte jetzt Besseres gekostet; dachte: wirst dich schon herausbeißen. Übrigens war mir alles ganz egal geworden; was lag denn schon an mir? In Aachen wurde ich Kellnerin. Schöne Sache, Kellnerin. Davon kann man keinem einen Begriff geben. Die Müdigkeit für einzige zwei Beine! Die Niedertracht für einzige zwei Ohren! Der miserabelste Fraß, lauter Abfall; ein Bett wie für einen Hund; Zumutungen, daß man die Tollwut kriegen kann. Da wird man empfänglich für allerlei schwindelhaftes Gerede. Ging in ein Haus. Blieb vier Monate, ging in ein anderes. Hatte Schulden; man hat da auf einmal Schulden, weiß kaum, wofür. Kost, Logis, Kleider, alles wird dreifach angerechnet, jeder Schnaufer muß bezahlt werden. Man denkt bloß noch: heraus, sonst passiert was Schreckliches. Erscheint so 'n Bürschchen, der Kamm ist ihm geschwollen, schmeißt mit Goldstücken um sich, löst einen aus, man geht mit ihm, bereuts am dritten Tag, eines schönen Morgens klopfts an die Tür: Was los? Die Polizei. Das Bürschchen wird hopp genommen, man hat noch seine Mühe, sich rein zu waschen. Was jetzt? Man sucht ein Dach, man sucht ein Bett, man sucht ne Ansprache, man will was Warmes und was für den Durst; gezeichnet ist man einmal, kein Mensch traut einem mehr, hinten schiebts, vorne ziehts, und so kommt man herunter, Schritt für Schritt, Tag für Tag, man merkt es kaum, und schließlich ist man unten.«

Sie rollte sich noch mehr zusammen im Schutz der Decke, und mit dumpferer Stimme fuhr sie fort: »Das spricht sich so: unten. Aber erstens hat es eigentlich kein Aufhören; unter dem Unten ist immer ein noch tieferes Unten; und zweitens:[121] wie es beschaffen ist, das Unten, dafür gibts keine Worte. Das kann sich keiner ausdenken, ders nicht erlebt hat; das kann und kann sich keiner ausdenken, vom Sehen nicht und vom Wissen nicht. Da bewohnst du ne Bude, fünfmal so teuer, als es nach Recht und Billigkeit sein dürfte; selbstredend, du bist ja Freigut, da kann sich jeder die Zähne wetzen. Obs nun ein Salon ist oder ein Schweineloch, dir graut schon, wenn du bloß die Tür aufmachst. Es gehört ja nicht dir, es gehört ja jedem, der Unrat von jedem wird da abgestreift, und du kennst sie alle und erinnerst dich an alle. Was hat es denn noch auf sich, daß man sich ins Bett legt und mal wieder schlafen möchte? Es wird doch ein neuer Tag. Und dann die schmierigen Kaffeehäuser; ewig dieselben Gesichter, ewig dasselbe Gelichter. Und dann die Straße, was man so den Rayon heißt. Immer und ewig bei der Nacht. Kennst ein jedes Fenster, jeden Rinnstein, jede Laterne; gaffst und drehst dich und grinst und schneidest Grimassen, und spannst den Schirm auf, wenns regnet, und gehst herum und stehst herum und lugst nach dem Poli aus und schmeißt dich an jeden Kerl, ob er zertretene Absätze hat oder im Pelze stolziert, und versprichst ihm das Blaue vom Himmel, und möchtest ihm die Leber auskratzen, wenn er dich stehn läßt und ins Gesicht speien, wenn er sich herabläßt. Das ist es eben. Das ist das Hauptkapitel. Jammer und Sorgen, na ja, das haben viele. Was man hingegen von den Menschen erfährt, – du, ich sage dir!«

Diese letzten Worte waren ein Aufschrei, ärger noch als bei dem »Dann«, das Christian nicht hatte vergessen können. Er saß kerzengerade. Er sah über den Lampenzylinder hinweg an eine bestimmte Stelle der Wand, unbeweglich.

Karen redete gegen die Erde zu: »Da ist das Kuppelweib, das einen begaunert und bewuchert, hinten und vorn. Da ist der Hauswirt, der 'n Gesicht macht, als wolle er einem einen Fußtritt versetzen, wenn man ihm am hellen Tag begegnet, und der an die Tür geschlichen kommt, wenns schummert.[122] Da ist der Kaufmann, der dir die Ware aufschlägt und so tut, als wärs Gnade, daß er dir den Pofel für schönes Geld verkauft. Da ist der Schutzmann, der dir wegen jeden Fußbreit Weg Masematten macht und drauf lauert, daß du ihm nen Taler heimlich zusteckst, sonst schindet er dich und du kriegst Strafzettel, daß es bloß so knallt. Da ist der Kneipjee, bei dem du in der Kreide sitzt, der dich kujoniert, wenn du keinen Kies hast und jampelt und feixt, wenn er was in deiner Tasche wittert. Vom Lude will ich gar nicht reden; den mußt du haben, ob du magst oder nicht, sonst bist du elend ausgeliefert, und wenn er ins Zuchthaus gewandert ist, mußt du nen andern nehmen. Alle haben sie das Messer lose am Hosengürtel, aber schlimmer als der Meseckekarl war keiner. Und was die Marterhölle ist, eine ärgere kanns auf der Welt und außer der Welt nicht geben, das ist die Kundschaft, das ist das Geschäft. Die Feinen und die Ordinären, die Jungen und die Alten, die Knickerigen und die Splendiden, wie sie da sind, sind sie nicht besser als das Aas auf dem Müllhaufen. Da sieht man, was Heuchelei ist und Schurkerei, da zeigen sie sich, die Schmutzseelen, mit ihrer Angst und ihrer Verlogenheit und ihrer Gier und ihrer Gemeinheit. Was sie drinnen haben, das kommt heraus. Es kommt heraus, sag ich dir, denn da schämt sich keiner. Das brauchen sie nicht mehr. Und was du vor dir hast, ist der Mensch ohne Scham. Und was du kennenlernst, ist das arme scheußliche Fleisch. Willst du wissen, wie? Trink mal ne Jauchengrube leer, dann weißt du, wie. Obs einer ist, der sein Weib im Kindbett zuschanden schlägt, oder einer, der seine Kinder hungern läßt; ein verlotterter Student oder ein geschaßter Offizier, ein furchtsamer Pfaff oder der Bürger mit nem dicken Bierbauch; es ist immer das nämliche: der Mensch ohne Scham und das arme scheußliche Fleisch.«

Sie lachte mit erquältem Hohn und fuhr fort: »Den Meseckekarl lernt ich kennen, als ich aus dem Krankenhaus kam. Damals hatt ich niemand. Vorher war ich drei Wochen im[123] Gefängnis wegen dem Lumpen, dem Sergeantenmax. Hatt es der schon bös getrieben, gegen den Meseckekarl war er ein dösiges Lamm. Da tauchte im Cafe Nachtigall so 'n junger Mensch auf, ein Gymnasiast oder so was, der schmiß eine Pulle Sekt um die andre, jeden Tag. Und grab mich hatt er sich ausgesucht, grade mit mir wollt er immer gehn. Und die blauen Lappen flogen nur so. Man wußte gleich, daß die Geschichte faul war, und der Meseckekarl nahm ihn beiseite und sagte ihm auf den Kopf zu: Das Geld ist aus deines Vaters Kasse, das Geld ist gestohlenes Geld. Das räumte er auch ein und schlotterte dabei. Aber der Meseckekarl ließ nicht locker und unterwies ihn, wie er mehr herschaffen könnte, und er und der zerrissene Woldemar versprachen ihm, sie wollten ihn in die Opiumstube führen, das sei das Schönste überhaupt, die reine Zauberbude. Und wie der junge Mensch bei mir war des Nachts, da fing er an, gottserbärmlich zu flennen und zu winseln; da tat er mir leid, weil ich wußte, das nimmt ein böses Ende, und das sagt ich ihm auch, aber nicht eben freundlich. Da zog er Geld aus seinen Taschen, so viel hatt ich nie beisammengesehn, lauter gestohlenes Geld, und mir schwindelte vor den Augen, und ich sagte, er solle es fortnehmen; aber er wollte, ich sollt es nehmen, sollte mir was kaufen und tun damit, wozu ich Lust hätte. Ich zitterte an Armen und Beinen und sagte, er solle es um Himmels willen nach Hause tragen; da heulte er wieder zum Steinerweichen und lag auf den Knien da und faßte mich um, und auf einmal stand der Meseckekarl im Zimmer; er hatte sich nebenan versteckt gehalten und hatte alles mit angehört, und ich hatt es nicht geahnt. Aber der junge Mensch, sein Gesicht war wie ein Stück Bimsstein so grau, der sah mich an und sah mich an und glaubte, ich hätte den Meseckekarl versteckt; aber der, glücklicherweise, stieß mich an die Schläfe, daß ich dachte, die Luft wäre lauter Blut und Glut, und zuletzt gab er mir einen Fußtritt, daß ich in die Ecke flog und liegenblieb. Da mußte der junge Mensch doch sehen,[124] daß ich unschuldig war. Den Jungen, Adalbert nannt er sich, den packte Meseckekarl und ging mit ihm davon. Adalbert sagte nichts und deutete nichts, er ging folgsam mit. Und am andern Tag kam er nicht, am dritten Tag nicht, er kam und kam nicht wieder. Da fragte ich den Meseckekarl: Was hast du mit dem Adalbert angestellt? Da sagte er: Auf ein Schiff Hab ich ihn gebracht, damit er nach Übersee kommt. Ei ja doch, dacht ich, Übersee, hat sich was. Und ich fragt ihn wieder: Was hast du mit dem Adalbert angestellt? Da sagte er, wenn ich nicht schwiege, würd er mich zu nem Knochenbukett verhauen. Da schwieg ich. Es is ja möglich, daß der Adalbert auf ein Schiff gegangen is, es is ja möglich. Gehört hat man nichts mehr von ihm. Ich machte mir auch nicht viel draus. Es kam ja jeden Tag was andres. Mußt mich meiner Haut wehren. Den Tag rumbringen, die Nacht rumbringen. Es war immer das nämliche, immer das nämliche.«

Sie richtete sich auf und packte Christian mit eisernem Griff am Arm. Ihre Augen starrten ihn funkelnd an, und durch die zusammengebissenen Zähne zischte sie: »Aber das wußt ich alles nicht so. Wenn man drinnen steckt, weiß mans nicht so. Daß das kein menschlich Leben ist, spürt man nicht so. Daß man verdammt und siebenmal verdammt ist, man wills nicht sehn, man wills nicht denken. Warum hast du mich weggenommen? Warum hat das denn sein müssen?«

Christian antwortete nicht. Er hörte die Luft sausen.

Nach einer Weile ließ sie ihn los, oder vielmehr, sie stieß seinen Arm fort, und er erhob sich. Sie fiel aufs Bett zurück. Christian dachte: alles vergebens. Die Bangigkeit, die er empfunden, wuchs zu einem Gefühl der Verzweiflung. Vergebens, sauste es in der Luft, vergebens, vergebens, vergebens.

Da sagte Karen mit einer hellen Stimme, die er noch nie an ihr gehört: »Deiner Mutter Perlenhalsband möcht ich haben.«

»Wie?« fragte Christian verwundert. Er glaubte, nicht recht verstanden zu haben.[125]

Und Karen wieder, mit einem fast kindischen Ton: »Deiner Mutter Perlenhalsband möcht ich haben.« Sie faselte, und sie wußte, daß sie faselte. Nicht eine Sekunde lang hielt sie die Erfüllung eines solchen Begehrens für möglich.

Christian trat aus Bett. »Wie kommst du denn darauf?« flüsterte er. »Was soll denn das? Was meinst du denn?«

»Nie noch hab ich mir etwas so gewünscht,« sagte Karen, regungslos liegend, mit derselben hellen Stimme; »nie noch. Wenigstens sehen möcht ichs mal. Wie so was aussieht. Wenigstens mal in der Hand halten. Obs das wirklich gibt. Geh doch hin zu ihr und verlangs. Fahr hin zu ihr und sag: Die Karen möcht dein Perlenhalsband mal sehen. Vielleicht borgt sie dirs.« Sie lachte irr. »Vielleicht gibt sie dirs für ne Weile. Dann, scheint mir,« sie schlug die Augen in die Höhe, und eine neue Flamme war in ihnen, »dann, scheint mir, könnt es anders sein zwischen uns.«

»Wer hat dir davon gesprochen?« fragte Christian wie im Traum; »woher weißt du von der Perlenschnur meiner Mutter?«

Sie riß die Schublade ihres Nachttischchens auf und holte das Bild hervor. Christian machte eine heftige Bewegung danach, obgleich sie es ihm ohnedies hatte reichen gewollt. »Der Boß hat mirs geschenkt,« sagte sie.

Christian sah das Bild an und legte es schweigend wieder weg.

»Ja, das wünsch ich mir,« begann Karen abermals, und alles war nun irr in ihrem Gesicht, kindisch und begehrlich irr, trotzig und herausfordernd irr: der Glanz in den Augen, das Lächeln, das Lachen; »bloß das wünsch ich mir. Mit der Zunge würd ichs schmecken. In mein Fleisch hinein würd ichs vergraben. Keiner dürft es wissen, keinem würd ichs zeigen. Deiner Mutter Perlenhalsband, ja, das wünsch ich mir, das möcht ich haben; für ne Weile wenigstens.«

Nichts andres hätte Christian so zu innerst treffen können[126] wie dies irre Stammeln, dies irre unsinnige Fordern. Er stand am Fenster, blickte in die Nacht hinaus und sagte langsam und bedächtig: »Gut, du sollst es haben.«

Karen erwiderte nichts. Sie streckte sich aus und schloß die Augen. Sie nahm seine Worte nicht ernst. Als er ging, höhnte sie stumm; höhnte ihn, höhnte sich.

Am andern Morgen fuhr Christian mit der Untergrundbahn zum Anhalter Bahnhof und löste eine Karte dritter Klasse nach Frankfurt. In der Hand trug er eine kleine Reisetasche.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 118-127.
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