9

[46] Karen Engelschall sagte: »Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Vor dem Abend kommt er heute nicht mehr. Und wenn, so sind Sie eben ein Bekannter von mir.«

Sie blickte Girke lauernd an. Hochschwangern Leibes saß sie am Fenster, breit, entschlossen nach Art gewisser Weiber, denen das Sitzen Genuß und Eroberung ist. Sie nähte an einem Kinderhemdchen.

»Übrigens, zu reden haben wir ja nicht viel,« fuhr sie fort, und in ihrer Miene war schadenfrohe Genugtuung. »Was wäre noch zu reden? Sie sagen, man will sechzigtausend geben, wenn ich von der Bildfläche verschwinde? Na ja, sechzigtausend ist ja ganz schön. Aber wenn ich warte, gehen die Herrschaften noch weiter in die Höhe. Auf einmal ist man wer. Ich will mirs überlegen. Kommen Sie nächste Woche wieder.«

»Sie sollten es wirklich überlegen,« antwortete Girke amtlich, »denken Sie an die Zukunft. Es ist vielleicht der Haupttreffer. Nicht im Traum hätten Sie vor einem halben Jahr dran geglaubt. Zinsengenuß: prachtvoll. Das Ziel. Solche Aussicht zu verscherzen, wäre frivol.«

Mit tückischem Lächeln beugte sich Karen tiefer über ihre Arbeit. In einem unbestimmten Wohlgefühl preßte sie die Knie aneinander und drückte die Augen zu. Dann schaute sie empor, wischte den gelben, übergestülpten Haarwust aus der Stirn und sagte: »Ich müßte dümmer sein, ließ ich mich fangen. Meinen Sie, ich weiß nicht, wie reich er ist? Wenn er bieten wollte, um mich los zu sein, wär das Gebotene von euch bloß ein lausiger Bettel. Warum soll ich schlechte Geschäfte machen? Da wär ich ja rein auf den Kopf gefallen. Sie haben recht, der Haupttreffer ist es ja, aber anders als Sie denken. Abwarten und Tee trinken. Kann sein, daß es die falsche Rechnung ist, dann hab ich mir den Schaden selber zuzuschreiben.«[47]

Girke rückte unbehaglich auf seinem Stuhl. Er schaute auf die Uhr und ließ von da den notizenlüsternen Blick über das Zimmer mit den ordinären Möbeln, Tapeten, Deckchen und Teppichen schweifen.

»Eins kann ich Ihnen zum Trost sagen und sag es Ihnen, weil es an der Geschichte nicht viel ändert,« begann Karen Engelschall wieder; »nämlich, daß seine Leute auf dem Holzweg sind, wenn sie glauben, um meinetwillen wär es mit ihm so wie es ist, und daß sie ihn behalten hätten, wär ich ihm nicht in die Quere gekommen. Ich könnte euch ja leicht einen blauen Dunst vormachen und so tun, als hätte er mir zuliebe sein Leben umgekrempelt. Wozu aber? Das muß ja ein neugeborenes Kind kapieren, daß es bei ihm nicht mit rechten Dingen zugeht. Warum soll ich Ihnen also eine Komödie vorspielen, wo ich doch da sitze und mir das Hirn zerdenke.«

»Sehr wahr,« sagte Girke, den ihre Offenheit überraschte, »ich verstehe vollkommen; Ihre Worte interessieren mich ungemein. Ich habe immer behauptet, man könnte am ehesten bei Ihnen auf Unterstützung rechnen. Sie würden mir einen wesentlichen Dienst leisten, wenn Sie mir einige Fragen beantworten wollten. Eine Hand wäscht die andere; ich meinerseits würde Sie dann gegebenenfalls auch nicht im Stiche lassen.«

Karen kicherte in sich hinein. »Glaubs schon,« erwiderte sie, »so 'n bißchen herumspionieren und dann hingehn und trätschen. Das paßte Ihnen gerade. Nee, nee, so was tut sie nicht, absolut nicht. Fragen Sie doch weiter herum, da könnten Sie schon verschiedenes hören. Da gibts schon welche, die reden könnten. Da ist zum Beispiel sein Freund, der Voß; wenden Sie sich mal an den.« Ihre Augen funkelten, als sie den Namen aussprach. »Der gehabt sich, wie wenn er die Weisheit mit Löffeln gefressen hätte, und behandelt einen so niederträchtig, daß man ihm am liebsten die Faust unter die Nase stoßen möchte. Den fragen Sie mal, an wen das Geld gehängt[48] wird. An mich nicht, aber der Voß kann Ihnen schon sagen, an wen.«

»Beileibe, das überschätzen Sie wohl,« warf Girke sachverständig hin; »daß die in Rede stehende Persönlichkeit die Wurzel des Übels ist, leidet keinen Zweifel. Aber wie die Verhältnisse liegen, würde selbst das Zehnfache der Gelder, die von diesem gierigen Rachen verschlungen werden, nicht in Betracht kommen. In dem Punkte kann ich Sie durchaus beruhigen. Es müssen noch andre unbekannte Blutsauger existieren.«

»Is mir total schleierhaft, was Sie da quasseln, lieber Mann,« versetzte Karen, und ihre gelben, kleinen, bösen Zähne wurden sichtbar. »Wollen Sie nachschauen, ob was im Schrank steckt? oder in der Matratze? Ist Ihnen die Wohnung vielleicht zu fein? Oder trag ich Ihnen zu schöne Kleider, zu teuern Schmuck? Oder haben Sie schon das Loch drüben bei Gisevius besichtigt, wo er schläft, der elegante Herr? Kolossaler Luxus, was sagen Sie dazu? Sogar die Mäuse finden's ungemütlich; ich hab neulich, wie ich drüben war, eine krepiert im Winkel liegen sehen. Einem normalen Menschen grault vor Mäusen; ihm macht das nichts aus. Ist doch jammervoll bei einem, der so großartig gelebt hat. Man hört ja Wunder davon, es muß ja gewesen sein wie beim Kaiser. Hat Schlösser gehabt, Jagden gehabt, Automobile gehabt, die schönsten Weiber gehabt. Sind ihm alle nur so zugeflogen, die Weiber. Nie Sorgen, nie einen Kummer, nie ein Wölkchen, alles im Überfluß, Geld, Kleider, Essen, Trinken, Freunde, Diener, alles im Überfluß; und nun bei Gisevius, wo die Mäuse krepieren.«

Ihre Augen waren brennend auf Girke gerichtet, aber möglicherweise sah sie ihn gar nicht mehr. Sie schien auch nicht mit ihm zu sprechen, diesem Unbekannten, dessen zweckhafte Wißbegier sie gleichgültig ließ, sondern sie verschaffte sich Luft, indem sie den Krampf des einsamen Schweigens[49] brach. Die Hände öffneten sich wie Muschelschalen und blieben geöffnet; das Kinderhemdchen glitt auf den Boden. Ihre Zunge war entfesselt; Worte stürzten hervor, im Grübeln entstanden, im Grübeln zerrieben, im Tage und Nächte währenden Hinbrüten einander vertraut geworden; die Stimme hatte Metall, im Gesicht strafften sich erschöpfte Muskeln.

Girke lauschte gespannt und führte in Gedanken Protokoll. Er merkte, daß sich jetzt sogar sein Fragen erübrigt hatte; die Maschine, von einem heimlichen Feuer geschürt, war von selbst in Schwung geraten.

Karen fuhr fort: »Er kommt, setzt sich hin und schaut. Setzt sich hin, schlägt ein Buch auf und studiert. Legt das Buch weg und schaut. Schaut mich an, als wär ich eben vom Wind ins Zimmer hereingeweht worden. Wenn er nur nicht wieder mit seinem Fragen anfängt, denk' ich. Ich sage: Heut ist großer Lärm auf der Straße. Ich sage: Die Isolde hat geschwollene Hände, man muß eine Salbe kaufen. Meine Mutter war da, sag ich, und hat erzählt, am Alexanderplatz bekäm man billiges Linnen für 'ne Steppdecke. Er nickt. Ich stell das Wasser zum Kaffee auf. Er sagt, am Morgen sei ihm ein räudiger Köter stundenlang nachgelaufen; er hätte ihm was zu fressen gegeben. Er wäre bei einer Versammlung in Moabit gewesen und hätte mit ein paar Leuten gesprochen. Alles nur so halb, wie einer, der sich geniert. Schon gut, denk ich, bloß nicht fragen. Aber seine Augen kriegen schon das Gewisse, und er fragt, ob die Zeit bald käme,« sie deutete brutal auf ihren Leib; »ob ich mich freue; wie es früher gewesen sei, ob ich mich da auch gefreut hätte; ob ich das möchte, ob ich jenes möchte. Bringt mit; bringt Äpfel mit, bringt Kuchen und Schokolade mit; ein Umhangtuch; ein Pelzchen für den Hals. Sieh mal, Karen, das hab ich dir mitgebracht, und küßt mir die Hand. Ja, küßt mir die Hand, als wär ich Gott weiß wer, als wüßt er nicht, wer ich bin. Küßt man einer wie mir die Hand?«[50]

Sie fragte es bleich, mit verzerrten Zügen; der Strohhelm von Haaren wuchs in die Höhe. Girkes Augen wurden zu zwei blöden Kugeln. »Äußerst merkwürdig,« murmelte er, »höchst interessant.«

Karen achtete nicht auf ihn. »Wie gehts dir, Karen?« äffte sie; »entbehrst du was? Was sollt ich entbehren? Einen Fußläufer für mein Bett, sag ich in der Verzweiflung; ein paar Kretonvorhänge für die Kammer; roten, sag ich, roten Kreton, weil mirs eben einfällt. Manchmal gehen wir zusammen; zum Humboldthain, zum Oranienburger Tor. Er denkt vor sich hin; lächelt, schweigt. Die Leute glotzen; es kribbelt mich. Ich möchte sie anschreien: Da ist er, der noble Herr; er geht mit mir, der noble Herr, ihr könnts ruhig glauben; und da bin ich, das Mensch mit nem dicken Bauch und geh mit ihm; fein, was? feinfein; sehts euch nur genau an, das kuriose Paar. Manchmal kommt er mit dem Voß, und sie reden im Zimmer nebenan; das heißt, der andre redet; der verstehts, ein Pfarrer möchte neidisch werden. Einmal war er mit nem Baron da, so nem jungen, blonden Menschen; na, das war ne schöne Geschichte; der hatte nen Weinkrampf, heulte stundenlang wie 'n kleines Kind. Der Christian sagte nichts dazu, setzte sich bloß hin zu ihm. Was er sich denkt, weiß man ja nie. Manchmal wandert er im Zimmer auf und ab, steht am Fenster, schaut hinaus. Geht fort, ich weiß nicht wohin; kommt, ich weiß nicht woher. Mutter sagt, er ist einfältig. Sie legts darauf an, ihn zu stellen. Riecht sie Moos, ist sie wie ne Klette. Hätt sie mir bloß nicht Niels Heinrich auf den Hals gehetzt. Der wird immer unverschämter; angst und bang ist mir, wenn ich ihn auf der Treppe höre. Auf der Treppe krakeelt er schon. Letzten Montag kommt er, verlangt Draht. Hab keinen Draht, sag ich, geh du in die Arbeit. Er hat auf Monteur gelernt, kann verdienen, aber die Tagdieberei schmeckt ihm besser. Er sagt, ich solle mein Maul halten, sonst könnt ich mir mal die fünf[51] Jauerschen angucken. Indem kommt Christian herein; Niels Heinrich spießt ihn mit den Augen an die Wand. Mir schlottern die Beine, ich zieh Christian beiseit, sag ihm: er will Draht. Versteht er nicht. Geld, sag ich. Da gab er mir Geld, hundert Emm, drehte sich um und ging hinaus. Der andre ihm nach. Ich dachte, er will Streit anfangen. Es war aber nichts. Nur eklig wars. Der Schreck blieb mir im Halse sitzen.«

Sie schwieg und atmete keuchend.

»Daß Niels Heinrich ihn mit Anforderungen verfolgt, ist durch eine Reihe von Tatsachen erwiesen,« glaubte Girke einschalten zu sollen.

Karen hörte es kaum. Ihr Gesicht wurde immer finsterer. Sie legte die Hände auf die Brust, erhob sich schwerfällig und sah sich im Zimmer um. Die Füße waren einwärts gebogen, der Leib vorgestreckt. »Kommt, geht; kommt, geht,« grollte sie mit einer Stimme, die langsam bis zum Kreischen hinanstieg. »So ists, so bleibts. Wenn er bloß wenigstens nicht fragen wollte! Da wird einem kalt und heiß. Wie Leibesdurchsuchung ist es. Kennen Sie Leibesdurchsuchung? Alles wird rum- und rumgedreht, alles befingert; schauderhaft. Ich sollte mirs doch wohl sein lassen in den vier Wänden; was gibts denn Besseres? Ist eins so herumgeschmissen worden in der Welt wie 'n verrecktes Aas, da muß er ja seinem Herrgott danken, wenns mal so weit ist, und er kann verschnaufen. Aber sitzen und warten und immer erzählen, wie's da war und wie's dort war, und was da geschah und was dort geschah, das halt ich nicht aus, das ist zu viel, da springt mir die Hirnschale entzwei.« Ihre Faust dröhnte gegen ihre Schläfe. Ein Tier kam zum Vorschein, ein Tier mit der Häßlichkeit des zerstörten und verstörten Menschen, eine bösartige Wilde, aufgeweckt und nicht mehr zu bändigen.

Girke erhob sich bestürzt und schob für alle Fälle, als Schutz und Waffe, den Stuhl zwischen sich und das Weib. Er sagte:[52] »Ich will nicht länger stören. Ich bitte, meinen Vorschlag in reifliche Erwägung zu ziehen. Ich werde gelegentlich wieder vorsprechen.« Er ging mit einem Gefühl von Bedrohung im Rücken.

Karen nahm nicht einmal wahr, daß sie sich allein im Zimmer befand. Sie grübelte. Ihre Gedankenarbeit war primitiv. Zwei Ungewißheiten quälten sie bis zur Krankhaftigkeit und Wut; die eine: wodurch Christian getrieben wurde, sie auszuforschen, immer von neuem, immer mit derselben Geduld, derselben Freundlichkeit, derselben Neugier; die andre, was für ein unerklärlicher Zwang es war, in welchem sie antwortete, Rede stand, erzählte und Rechenschaft gab.

Jedesmal geschah es, daß sie sich am Anfang sträubte und dann dem Zwang erlag; daß sie den Blick von der eignen Vergangenheit zuerst voll Entsetzen abwandte, dann aber hinschauen mußte, von unerbittlicher Gewalt befehligt, hinschauen mußte, und alles Erlebte, Verschwundene, Wüste, Dumpfe, Finstere, Gefährliche wurde ihr in einer Art, die sie fürchtete, zum gegenwärtigen Bild. Es war ihr eigenes Leben und schien doch das Leben einer andern, die ihr glich und wieder nicht glich. Es war, als finge alles von vorne an, doppelt wüst, grauenhaft, finster und gefährlich, und man wisse dabei jedes Tages trostloses Ende.

Dinge von ehedem waren noch an ihrem Ort; schrecklich tauchten Stuben auf, Betten, Wände; tauchten Städte auf, Straßen, Straßenecken, Destillen, Korridore in Amtsgebäuden; tauchten Menschen auf, Worte, Stunden, Nächte, Tränen, Schreie; alle Ängste, alle Erniedrigungen, alle Verbrechen, aller Hohn, alles Gelächter; alles kam wieder, stand da, kroch ins Innere, riß ins Vergangene zurück.

Die Einbildung war die: man befand sich in einem unabsehbar langen Schacht, durch den man schon einmal gegangen war; man wurde gepackt mit dem Befehl, umzukehren und etwas zu holen, was man vergessen hatte; man wehrte sich[53] verzweifelt; man setzte alles daran, es nicht zu tun; umsonst; man mußte umkehren und das Vergessene holen und wußte dabei gar nicht, was es war. Wie man nun so ging, kam einem von der andern Seite jemand entgegen; dieser Jemand war man selbst; man hätte an eine Spiegelung glauben können, aber die andre war gleichsam zerfetzt: sie hatte eine aufgerissene Brust, aus welcher blutig entblößt das Herz leuchtete.

Was war das? Was bedeutete es?

Sie fiel auf den Stuhl nieder; ächzend schlug sie die Hände vors Gesicht. Er sollte es wenigstens bezahlen, der Peiniger, er sollte es teuer bezahlen.

Die einbrechende Dunkelheit verlöschte ihre Gestalt.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 46-54.
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