14

[337] Christian teilte seine Mahlzeiten mit Michael. Er war brüderlich um ihn bemüht. Am Abend bereitete er ihm das Lager selbst. Er wußte es einzurichten, daß sich der Knabe an das Beisammensein mit ihm gewöhnte. Seine Gabe, sich unbemerklich zu machen, kam ihm zustatten; Michael war in seiner Gegenwart ohne die Verkrampfung, die sogar Johannas[337] liebevolle Rücksicht nicht hatte lösen können. Er folgte Christian bisweilen mit den Augen. »Warum siehst du mich an?« fragte Christian dann. Aber der Knabe schwieg.

»Ich möchte wissen, was du denkst,« sagte Christian.

Der Knabe schwieg. Wieder und wieder folgte er Christian mit den Augen und schien voll zwiespältigem Gefühl.

Eines Abends sagte er die ersten Worte. »Was wird mit mir geschehen?« flüsterte er kaum hörbar.

»Du solltest ein wenig Vertrauen zu mir haben,« antwortete Christian freundlich.

Michael starrte lange vor sich hin. »Ich habe Angst,« kam es endlich von seinen Lippen.

»Wovor hast du Angst?«

»Vor allem. Ich habe Angst vor allem, was es gibt. Vor den Menschen, vor den Tieren, vor der Finsternis, vor dem Licht, vor mir selber.«

»Seit wann ist das so?«

»Sie meinen, es ist erst seit ... Nein. Es ist immer so gewesen. Die Angst steckt in meinem Leib wie die Lunge und das Hirn. Als ich noch ein Kind war, lag ich nachts im Bett und zitterte vor Angst. Konnte nicht schlafen vor Angst. Ich hatte Angst, weil es still war. Ich hatte Angst, weil ich Geräusch hörte. Ich hatte Angst vor dem Haus, vor der Wand, vor dem Fenster. Ich hatte Angst vor dem Traum, der noch gar nicht da war. Ich dachte: jetzt wird ein Schrei sein; oder: jetzt wird ein Feuer sein. War der Vater über Land, so dachte ich: er kommt nie wieder; viele kommen nicht wieder, warum sollte gerade er wiederkommen. War er zu Hause, so dachte ich: er hat etwas Schreckliches erlebt, niemand darf es wissen. Am ärgsten war es, wenn Ruth fort war. Nie hab ich einen Menschen so gehaßt wie Ruth in jener Zeit; nur weil sie so viel fort war. Das war die Angst.«

»Und da gingst du herum mit deiner Angst und sprachst nicht davon?«[338]

»Zu wem hätte ich sprechen sollen? Es schien mir dumm, das Ganze. Jeder hätte mich ausgelacht.«

»Aber als du älter wurdest, muß doch die Angst verschwunden sein?«

»Im Gegenteil.« Michael schüttelte den Kopf. Er sah unschlüssig aus. Er schwankte, ob er sich weiter mitteilen solle. »Im Gegenteil,« wiederholte er. »Die Angst wird groß mit einem. Die Gedanken haben keine Macht über sie. Hat man einmal die Angst, so trifft alles ein, wovor man sich ängstigt. Man müßte weniger wissen. Je weniger man weiß, je weniger hat man Angst.«

»Das versteh ich nicht,« sagte Christian, den die Worte des Knaben ergriffen; »das heißt, die kindliche Angst, die versteh ich; aber sie dauert doch nur, solang man ein Kind ist.«

Michael schüttelte abermals den Kopf.

»So erklär es mir,« fuhr Christian fort. »Wahrscheinlich erblickst du überall Gefahren, fürchtest dich vor Krankheiten oder Unglücksfällen oder vor Begegnungen mit irgendwelchen Leuten.«

»Nein,« antwortete Michael hastig und mit gerunzelter Stirn; »so einfach ist es nicht. Es kommt mal vor, aber es kann einem nicht viel anhaben. Es ist nicht das Wirkliche. Das Wirkliche ist wie ein tiefer Brunnen. Ein tiefes, schwarzes, endloses Loch. Das Wirkliche ist ... warten Sie mal: ich lange nach dem Schachbrett da: auf einmal ist es gar kein Schachbrett. Es ist was Fremdes. Ich hab gewußt, was es ist, kann mich aber nicht mehr darauf besinnen. Der Name Schachbrett läßt mich nicht dahinterkommen, was es ist. Der Name macht, daß ich mich eine Zeitlang zu frieden gebe. Verstehen Sie?«

»Durchaus nicht. Es ist mir völlig unverständlich.«

»Na ja,« gab Michael mürrisch zu, »es ist ja auch ein Blödsinn.«

»Könntest du nicht ein andres Beispiel wählen?«[339]

»Ein andres ... Warten Sie mal. Ich finde so schwer die richtigen Ausdrücke. Warten Sie ... Vor ein paar Wochen war Vater nach Fürstenwalde gefahren. Am Abend fuhr er, am Morgen wollte er zurück sein. Ich war allein zu Haus. Ruth war bei einer Bekannten, ich glaube in Schmargendorf. Sie hatte gesagt, es würde spät werden. Je später es aber wurde, je unruhiger wurde ich. Nicht weil ich fürchtete, es könnte Ruth etwas zustoßen; daran dachte ich gar nicht, sondern das leere Zimmer und der Abend und die Zeit, die verging, das war es. Die Zeit rinnt herunter, entsetzlich regelmäßig, entsetzlich unaufhaltsam, rinnt herunter wie Wasser, in dem ich ertrinken muß. Wäre Ruth gekommen, so hätte die Zeit einen Aufenthalt gemacht, sie hätte von vorn anfangen müssen; aber Ruth kam nicht. An der Wand im Zimmer hing eine Uhr; Sie werden sie ja oft gesehen haben; eine runde Uhr mit blauem Zifferblatt und einem Messingperpendikel. Das tickte und tickte; jedes Ticken war ein Hammerschlag. Endlich ging ich hin und brachte den Perpendikel zum Stehen, und als das Ticken aufhörte, da hörte die Angst auf, und ich konnte einschlafen. Die Zeit war nicht mehr, die Angst war nicht mehr.«

»Eigentümlich,« murmelte Christian erstaunt.

»Früher, als uns die Frömmigkeit gelehrt wurde, war es besser, da konnte man beten. Freilich, das Gebet war auch nur die pure Angst, aber es erleichterte einen doch.«

»Es wundert mich, daß du dich nie deiner Schwester anvertraut hast,« sagte Christian.

Michael zuckte zusammen. Dann antwortete er scheu, mit so leiser Stimme, daß Christian näher rücken mußte, um hören zu können: »Meiner Schwester, nein, das war unmöglich. Ruth hatte ohnedies viel auf ihren Schultern, zu viel, wenn mans recht bedenkt, aber auch sonst war es unmöglich. Bei Juden sind Bruder und Schwester nicht so intim wie bei euch Christen. Ich meine bei Juden, die nicht[340] unter Christen leben. Wir sind ja vom Land und waren als Juden weiter weg von andern Menschen wie hier. Der Bruder kann sich nicht der Schwester anvertrauen. Die Schwester ist immer eine Frau, von Anfang an; schon als kleines Mädchen ist sie eine Frau. Daher rührt ja das ganze Unglück ...«

»Wieso? Welches Unglück?« fragte Christian flüsternd.

»Es ist furchtbar schwer zu sagen,« fuhr Michael verloren fort; »ich glaube, ich kann es nicht sagen. Es klingt vielleicht gemein. Und es geht immer weiter; eins zieht das andre nach sich. Bruder und Schwester, das spricht sich so harmlos. Aber jedes hat einen Leib und jedes eine Seele. Die Seele ist das Reine, der Leib ist das Unreine. Schwester, das ist wie ein Heiligtum. Aber sie ist doch auch das Weib, das man sieht. Tag und Nacht kann man darüber grübeln: Weib ... Weib. Und Weib heißt Angst. Weib heißt Leib, und Leib heißt Angst. Ohne Leib könnte man die Welt begreifen, ohne Weib könnte man Gott verstehen. Und solange man Gott nicht versteht, solange plagt einen die Angst. Immer die Nähe von dem andern Leib, über den man nachdenken muß! Wo wir zuletzt wohnten, schliefen wir alle in der gleichen Stube. Ich kroch jeden Abend mit dem Kopf unter die Bettdecke. Die Gedanken durften nicht hin. Mißverstehen Sie mich nicht, es war nichts Häßliches, sie wollten nicht in häßlicher Weise hin, es war nur die namenlose, allgemeine Angst ... ja, wie könnt ichs nur erklären? Die Angst vor ... nein, ich kanns nicht erklären. Ruth, so zart, so fein. Alles an ihr stand im Widerspruch zu der Vorstellung von einem Weib. Und doch zitterte ich vor Abscheu, weil sie es eben war. Der Mensch, wie er geschaffen ist, und wie er sich zeigt, das ist zweierlei. Ich will Ihnen erzählen, was für einen Traum ich hatte; nicht einmal, sondern zwanzigmal, immer den nämlichen Traum. Ich träume, ein Feuer ist ausgebrochen; ich und Ruth, wir müssen nackend über die Stiege und aus dem Haus fliehen. Ruth muß mich mit aller Gewalt fortschleppen,[341] weil ich sonst umkehren und ins Feuer rennen würde. So schrecklich ist die Scham. Ich denke: Ruth, das bist du nicht, das kannst und darfst du nicht sein. Dabei seh ich es gar nicht, ich weiß nur und spür nur, daß sie nackt ist. Und sie, ganz natürlich bleibt sie, lächelt sogar. Herrgott, denke ich, kann man lächeln? Und schäme mich um den Verstand. Und bei Tage dann wagt ich nicht, sie anzuschauen; jeder gute Blick von ihr erinnerte mich an die Sünde. Aber warum erzähl ich das alles! Warum! Ich komm mir so schmutzig vor, so unbeschreiblich schmutzig ...«

»Nein, Michael, erzähle nur,« antwortete Christian ruhig und sanft; »fürchte dich nicht, sag mir alles, ich kann auch alles begreifen, ich bemühe mich jedenfalls, es zu begreifen.«

Forschend sah Michael zu Christian auf. Seine frühreifen Züge waren zerquält. »Ich suchte eine, zu der ich hin durfte,« begann er nach einer Pause. »Es schien mir, ich müßt es austilgen, daß ich Ruth in meinem Geist beschmutzte. Ich war schuldig vor ihr und mußte frei werden von der Schuld.«

»Da warst du in einem verhängnisvollen Wahn befangen,« warf Christian ein; »du warst ja nicht schuldig; du hast dir eine Schuld konstruiert. Inwiefern warst du schuldig?« Er wartete, aber Michael schwieg. »Schuldig,« wiederholte Christian, als wäge er das Wort zweifelnd in seiner Hand, »schuldig ...« Sein Gesicht drückte Zweifel aus.

»Schuldig oder nicht, es war, wie es war,« beharrte der Knabe. »Fühl ich Schuld, wer löst mich los? Das kann man nur für sich selber tun.«

»Es ist ein Wahn,« sagte Christian, »glaube mir.«

»Aber alle hießen Ruth,« fuhr Michael mit einem bangen Ton fort; »alle hießen Ruth; die Verworfensten, die Schlechtesten. Ich hatte so viel Achtung vor ihnen. Und zugleich ekelte mir doch. Das Unreine wurde immer mächtiger in meinen Gedanken; während ich suchte und suchte, wurde mir[342] das Leben leid. Ich verfluchte mein Blut. Was ich anfaßte, ward schleimig und unrein.«

»Ihr hättest du dich eröffnen müssen, ihr selbst, gerade Ruth, die war die Beste dazu,« sagte Christian.

»Es ging nicht,« beteuerte Michael, »ich konnt es nicht; lieber, ich weiß nicht was ... ich konnt es nicht.«

Er versank in Brüten, dann berichtete er in überstürzter Rede: »Am Sonnabend vor jenem Sonntag, an dem Ruth zum letztenmal im Hause war, schickte mich Vater zum Kohlenhändler. Ich sollte eine Rechnung zahlen. Niemand war im Laden. Ich ging in die Stube hinterm Laden. Da lag der Kohlenhändler mit einem Frauenzimmer im Bett. Sie bemerkten mich nicht. Ich lief davon; wie ich herauskam, weiß ich nimmer. Bis zum Abend rannt ich sinnlos auf der Straße herum. So groß war die Angst noch nie gewesen. Am andern Nachmittag, eben an dem Sonntag, zwischen vier und fünf, ging ich auf der Lichenerstraße; es fiel ein Platzregen um die Zeit, da nahm mich ein Mädchen unter seinen Schirm. Das war Molly Gutkind. Was für eine Sorte Mädchen es war, sah ich gleich. Sie sagte, ich solle zu ihr kommen. Ich gab keine Antwort, und sie ging an meiner Seite weiter. Sie sagte, wenn ich jetzt nicht wollte, werde sie am Abend auf mich warten; sie wohne Prenzlauer Allee, gegenüber dem Gasbehälter beim Güterbahnhof, unten sei eine Kneipe, Adelens Aufenthalt. Sie nahm meine Hand und schmeichelte: Komm doch, Jungchen, du siehst so vergrämt aus, du gefällst mir mit deinen schwarzen Augen, bist sicher noch ein ganz unschuldiges Tierchen. Wie ich heimkam, las ich, was Ruth auf die Schiefertafel geschrieben hatte. Prenzlauer Allee, das war mir seltsam. Es hätte ja ebensogut eine andre Gegend sein können. Es war mir seltsam. Öde war mir zumut; ich setzte mich auf die Stiege; ich ging ins Zimmer und fand Vaters Brief; ich las ihn, als hätt ich schon vorher gewußt, was er getan hatte; ich kam mir recht allein vor;[343] dann ging ich hinunter und ging und ging, bis ich in der Prenzlauer Allee vor dem Haus von Adelens Aufenthalt stand.«

»Nun, und selbstverständlich gingst du hinauf zu dem Mädchen?« fragte Christian mit einem sonderbar heiteren Ausdruck, hinter welchem sich seine Spannung verbarg.

Michael nickte. Er sagte, er habe lange gezaudert. In Adelens Aufenthalt habe einer Mundharmonika gespielt. Es sei ein außerordentlich schmutziges Haus, abgerückt von der Straße, ein altes Haus mit feuchten Flecken an der Mauer und einem Lattenzaun davor und Schutt- und Ziegelhaufen. Ein Hund sei vor dem Tor gestanden. »Ich traute mich nicht an dem Hund vorbei,« sagte Michael und faltete mechanisch die Hände; »er war so groß und stierte mich tückisch an. Aber Molly Gutkind hatte mich vom Fenster aus gesehen; das Haus hat nur ein einziges Stockwerk. Sie winkte mir, der Hund trabte auf die Straße heraus; ich ging ins Haus, Molly wartete auf der Treppe und zog mich lachend ins Zimmer. Sie trug zu essen auf, Schinkenstullen und Baumkuchen, und sagte, heute wolle sie mich bewirten, das nächste Mal müsse ich sie bewirten. Sie sagte, ich sei doch ein Jude; das möge sie gern, Juden möge sie überhaupt gern; wenn ich ein bißchen nett zu ihr sei, würde ich es nicht zu bereuen haben. Es war so merkwürdig alles; wer war ich denn für sie? Was konnt ich ihr denn sein? Mittlerweile war es dunkel geworden, und sie zündete die Lampe an. Ich sagte, ich wolle jetzt wieder gehen, aber sie litt es nicht, die Nacht über müsse ich bleiben, sagte sie. Und dann ...!« Er schauderte und schlug die Hände vor das Gesicht.

»Mein lieber Junge,« sagte Christian leise.

Das zärtliche Wort machte den Knaben noch mehr schaudern. Ziemlich lange Zeit schwieg er. Als er wieder zu sprechen anfing, klang seine Stimme verändert. Er sagte dumpf: »Dreimal hat ich sie, die Lampe auszulöschen, endlich tat[344] sie es. Wir lagen nebeneinander, Stunde um Stunde verging, und es geschah etwas mit dem Mädchen, worauf ich nicht gefaßt war. Sie sagte, sie wolle sich nicht vergehen an mir, sie sehe ein, daß sie eine schlechte Person sei, ich möchte ihr verzeihen, und was ich nicht selber wolle, das wolle sie auch nicht. Und als sie das sagte, weinte sie, und dann sagte sie, sie sehne sich furchtbar nach Hause, und ihr graue vor ihrem Leben. Ich war wie vor den Mund geschlagen, das arme Ding dauerte mich, und ich zitterte am ganzen Körper, meine Zähne klapperten, ich ließ sie reden und klagen, und als ich merkte, daß sie eingeschlafen war, dachte ich tief und streng über mich nach. Es war finster und still. Außer dem Atem des Mädchens hörte ich nichts. In der Kneipe unten waren keine Gäste mehr. Es war unheimlich still. Und mit jedem Augenblick Stille wuchs die alte Angst. Jeden Augenblick war mir, die gräßliche Stille müßte ein Ende haben; ich paßte die Sekunden ab. Und da, auf einmal, war ein Schrei. Auf einmal war ein Schrei. Wie soll ichs schildern? Irgendwo unten, tief unten, unterm Boden, hinter den Mauern, war ein Schrei. Er war nicht besonders laut oder schrill, aber so, daß das Herz nicht mehr schlug. Wie ein Strahl, verstehen Sie, wie ein heißer, dünner Strahl, mit was anderm kann ichs nicht vergleichen. Ich dachte: Ruth. Mein einziger Gedanke war: Ruth. Begreifen Sie das? Es war, als hätte mir jemand ein kaltes Messer in den Rücken gestoßen. O Gott, wie furchtbar es war!«

»Und was hast du getan?« fragte Christian, weiß wie die Wand.

Er sei gelegen und gelegen, habe gelauscht und gelauscht, brachte Michael stockend hervor.

»Ist es möglich? Du bist nicht aufgesprungen und hinaus, hinunter? – Mensch! Ist es möglich?«

Wie hätte er glauben sollen, daß es Ruth wirklich sein könne? Der Gedanke sei ihm doch nur wie eine Angstflamme[345] ins Hirn geschossen. Er starrte mit weiten Augen in die Luft und schluchzte plötzlich. »Und nun hören Sie,« sagte er und langte nach Christians Hand, »hören Sie.«

Er erzählte mit verhangenem, verweintem, überblassem Gesicht dies: Er habe den Schrei nicht vergessen können. Er wisse nicht, wieviel Zeit verstrichen war, als er sich von der Seite des Mädchens erhoben. Er habe auf Zehenspitzen das Zimmer verlassen. Finsternis, zum Schneiden dick. Draußen habe er nichts gesehen, nichts gehört. Er sei am Stiegengeländer gestanden, mindestens eine Viertelstunde lang. Da habe er Schritte gehört, Schritte und ein Keuchen, als schleppe jemand eine schwere Last. Er habe sich nicht gerührt. Dann sei ein Licht aufgeblitzt, der Schein einer Blendlaterne. Er habe einen Menschen erblickt, nicht das Gesicht, nur von hinten. Der Mensch habe auf seinem Rücken einen großen Ballen getragen und außerdem ein Bündel in der Hand. In bloßen Füßen sei der Mensch gewesen, aber an den Füßen habe Rotes geklebt, Blut. Der Mensch sei vors Haus gegangen, habe den Ballen dort hingestellt und sei zurückgekommen, aber die Laterne sei geschlossen gewesen. Dann sei der Mensch wieder in den Keller hinunter und kurz darauf mit einem zweiten Menschen wieder herausgekommen. Den habe er vor sich hergeschoben wie man ein Faß schiebt, man habe es aus dem Geräusch entnehmen können; gesehen habe man nichts; die Laterne sei auch diesmal abgeblendet gewesen. Der zweite habe Laute von sich gegeben, als habe er einen Knebel im Mund gehabt. Dann seien alle beide fortgegangen, das Haustor hätten sie zugesperrt und es sei still gewesen. »Bis dahin stand ich oben,« sagte Michael und schöpfte Atem.

Christian schwieg. Er schien versteinert.

»Es war ruhig und ich ging hinunter,« berichtete Michael weiter; »es zog mich. Schritt um Schritt tastete ich mich zur Kellerstiege. Dort blieb ich wieder lange stehen. Es wurde schon Tag. Ich sah es an dem schmalen Fenster über der[346] Haustür. Ich stand vor der Kellertreppe. Steinerne Stufen senkten sich. Ich sah erst eine Stufe, dann zwei, dann drei, dann vier; je heller es wurde, je mehr Stufen sah ich. Auf der fünften oder sechsten Stufe blieb das Dunkel kleben.«

Das Sprechen machte ihm jetzt sichtlich Mühe. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er lehnte sich zurück und schwankte. Christian mußte ihn stützen. Er stand auf und beugte sich über den Knaben. In seiner Haltung und Bewegung lag etwas ungemein Gewinnendes. Alles kam darauf an, das Letzte, Furchtbarste zu erfahren. Sein ganzes Wesen wurde Wille, und unter der stummen Gewalt wurde der Knabe folgsam. Was er nun bekannte, klang zunächst verwirrt und unbestimmt wie die Erzählung einer Geistererscheinung oder eines Fieberbildes. Man konnte den Worten kaum entnehmen, was Wirklichkeit war, was Zwangs- und Angstvorstellung. Ein Einzelnes stach grauenhaft wahr hervor: der Fund des blutigen Taschentuchs. Dreimal fragte Christian, ob er es im Keller oder auf der Stiege gefunden habe, jedesmal lautete die Antwort verschieden. Der Knabe bebte wie ein Seil im Wind, als ihn Christian bat, genau zu sein, genau nachzudenken. Er wisse es nicht mehr. Oder doch, er sei unten gewesen. Er beschrieb einen Verschlag, ein Holzgitter, eine vergitterte Luke, durch die gelbfahles Morgenlicht drang. Er sei aber seiner Sinne nicht mächtig gewesen, könne sich nicht erinnern, ob er den Raum betreten. Dabei schluchzte er laut auf. Christian stand neben seinem Stuhl, hatte ihm beide Hände auf die Schultern gelegt; der Knabe zuckte wie unter einem elektrischen Strom. »Ich beschwöre dich,« sagte Christian, »ich beschwöre dich, Michael,« und er fühlte seine Kraft schwinden. Da flüsterte Michael, er habe Ruths Namenszeichen auf dem blutdurchtränkten Taschentuch gleich erkannt, und von dem Moment an sei ihm das Gehirn zerhackt gewesen. Christian möge doch aufhören, ihn zu plagen; er könne nicht mehr, er wolle lieber tot hinschlagen. Aber Christian umklammerte[347] seine Handgelenke. Nun hauchte Michael bloß noch: das Haus habe ihm verraten, daß an Ruth Entsetzliches geschehen sei, die Luft habe es ihm zugebrüllt; die Mauern hätten sich über ihn gewälzt; er habe es gesehen, alles gesehen, habe gewimmert und gestöhnt und mit den Nägeln seinen Hals zerkratzt; »da, da, da ...« stieß er hervor und deutete auf seinen Hals, an dem in der Tat noch vernarbte Kratzwunden bemerkbar waren; er sei zur Haustür gerannt und habe an der Klinke gerüttelt und sei wieder zurückgerannt und habe die Kellerstufen gezählt, nur so, nur aus Verzweiflung, dann sei er hinauf, die Treppe hinauf, und plötzlich habe er an einer Tür einen Mann erblickt; im Dämmerlicht einen dicken Mann mit einer weißen Schürze und weißen Mütze, wie die Bäcker gekleidet sind, und einem Tuch um den Hals, von dem zwei weiße Zipfel weggestarrt; der sei an einer Türschwelle gestanden, weiß, fett, schläfrig, man hätte ihn für einen Schatten halten können, für ein Gespenst, doch habe er mit leiser, schläfriger, verdrießlicher Stimme gesprochen: »Nu haben se se umjebrungen, Menschenskind;« und danach sei er verschwunden, einfach wie weggeblasen. Und er, Michael, sei in Molly Gutkinds Stube gestürzt; sie sei gleich aufgewacht, habe ihn aufs Bett gelegt, und er hätte mit aller Inbrunst seiner Seele in sie gedrängt, sie möge schweigen, ihn verbergen, auch wenn er krank würde, keinem etwas sagen, ihn bei sich behalten und schweigen. Weshalb er es gefordert, weshalb es ihm so wichtig erschienen sei, daß sie schweige, das verstehe er selber nicht, aber so sei es noch zur Stunde, und er wolle Christian zeitlebens ein grenzenlos ergebener Mensch bleiben, wenn er Schweigen über das bewahre, was er ihm jetzt gebeichtet.

»Werden Sie es tun?« fragte er feierlich, mit dunkel glühenden und gepeinigten Augen.

»Ich werde schweigen,« erwiderte Christian.

»Dann kann ich vielleicht noch weiterleben,« sagte der Knabe.[348]

Christian schaute ihn an, und ihre Blicke begegneten sich in einem wunderlichen Einverständnis.

»Wie lange warst du nachher noch bei dem Mädchen?« erkundigte sich Christian.

»Ich weiß es nicht. Sie sagte eines Morgens, nun könne sie es nicht mehr machen, und ich müsse gehen. Ich war aber die ganze Zeit vorher nicht bei klarem Bewußtsein. Ich habe vielleicht phantasiert. Das Mädchen hatte sich viel Mühe mit mir gegeben; es ist ihr zu Herzen gegangen; stundenlang saß sie am Bett und hielt meine Hand. Ich habe mich dann in den Vororten und im Wald herumgetrieben; wo, das kann ich nicht sagen. Schließlich bin ich hierhergekommen. Ich weiß nicht, warum ich zu Ihnen ging. Als hätte mich Ruth zu Ihnen geschickt. Sie waren der einzige Mensch, der auf der Welt für mich da war. Was tu ich aber? Was wird jetzt sein?«

Christian überlegte einige Sekunden, bevor er mit einem seltsamen Lächeln antwortete: »Wir müssen auf ihn warten.«

»Auf wen? Auf wen warten?«

»Auf ihn.«

Abermals begegneten sich ihre Blicke.

Es war spät in der Nacht, aber sie dachten nicht an Schlaf.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 337-349.
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