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[380] Keiner konnte den andern wahrnehmen. Die dickstoffigen Vorhänge an den Fenstern schufen eine so undurchdringliche Dunkelheit, daß auch Umrisse von Gegenständen nicht hervortraten. Keiner konnte die Bewegungen des andern sehen, aber sie hatten voneinander das grellste Bewußtsein, ein schauerliches Körpergefühl, ein Gefühl von Verkettetsein und Haft, von Stirn wider Stirn-, Hauch wider Hauchstehen; sie entbehrten nicht das Licht; sie brauchten es nicht.

Dem Niels Heinrich schuf die Finsternis Freiheit. Sie verlieh ihm einen Auftrieb des Trotzes, der Prahlsucht, der Selbstentblößung. Sie war Zusammengeballtes, eine scheußliche Unform, der er die Forderung, Rechenschaft abzulegen, nicht mehr verweigerte. Sie zerspaltete Klötze in seinem Innern und entband aus ihnen das Wort. Er wagte nicht zu höhnen; er gab es auf, sich zu wehren.

Ein Maul war die Finsternis, das seine Tat ausspie. Da konnte er einmal selber hören, was geschehen war. Manches ließ sich sonderbar neu an. Der Gedanke: da drüben sitzt einer und horcht, da drüben sitzt der Mensch und weidet dich aus wie ein Stück Wild, hatte sogar einen gewissen Kitzel.[380] Nun sollte mal alles von der Leber weg, dann hatte man wenigstens Ruhe vor dem Menschen. Seine Maßregeln konnte man dann immerhin noch treffen.

Wie gesagt, die Jungfernschaft. Daran sei ja nicht viel herumzutüfteln. Das wisse jeder, wie so 'n Junge aufwachse und mit welchen Menschern. Mal kämen solche, mal solche, mal rothaarige, mal schwarzhaarige, mal weinerliche, mal lustige, mal bessere, mal schlechtere, aber Hurenmenscher seien es fast immer. Und wenn auch nicht gerade Hurenmenscher, so doch auf der Kante und mit der Nase daran, in elegant oder in dreckig, fünfzehnjährig oder dreißigjährig, so oder so, den Stich hätten sie mal. Und wenn auch nicht den Stich, so würden sie einem unter den Fingern ranzig, und was man kriege, dem traue man nicht mehr, und habe man sie mal erst in der Kralle, so seien sie auch schon hin. Da gehe der Betrieb so weiter, Montag die Male und Dienstag die Lotte und Mittwoch die Trine, aber den Unterschied, den könne ein Waisenknabe klavierspielen; da werde man endlich wie das Vieh und fresse alles, den Weizen und die Streu, die Kleie und die Disteln. Brenne es, so brenne es, schmecke es, so schmecke es.

Ja, es habe auch Jungfern. Gewiß habe es das. Aber es sei mickriges Zeug, Ramsch sei das, Pofelware. Das quaßle von Ausgang und Kostfrau, von Heiraten und Möbelanschaffen und sei am dritten Sonntag schon gelehrig wie 'n Pudel. Schließlich wisse man doch nie, wer vorher in die Suppe gespuckt; das sei alles zweifelhaft, man habe von vornherein keinen rechten Glauben dran. Und sei es mal was Höheres, so sei es doch das Höchste nicht; das ziere sich, koofmich und etepetete, da sei keine Natur mehr drin und keine Ehrlichkeit, man müsse sie erst kuranzen und kirre machen, und wenn sie es mit der Angst vor dem dicken Bauch bekämen, dann kriegte man den Frost in Koppe und möchte sie am liebsten massakrieren.

Manche Matrosen, die lange auf See gewesen, erzählen[381] von dem krankhaften Überdruß an salzigem, abgelegenem Fleisch. Käme so einer dann an Land und laufe ihm ein lebendiges Lamm oder Karnickel vor die Beine, da sei ihm, als müsse er es geradeswegs in Stücke reißen und das frische warme Fleisch hinunterschlingen. So könne es auch einem Mann mit den Weibern ergehn, und so sei es ihm ergangen, wie er die Jüdin gesehen. Das sei ihm durch und durch gefahren, wie ne glühende Stahlnadel durch nen Eisenpflock, das habe ihn um und um gewirbelt, zeit seines Lebens habe er so was nicht gespürt. Wie verdonnert sei er gewesen, wie behext, als habe er einen Hektoliter Spiritus gesoffen. Beständig das Zucken in den Fingerspitzen, als ob Samt darüber streiche; die Gier nach dem Griffigen, was sich bewegt und was zittert und heiß ist, wenn man hinlangt, die Hügelchen und die gespannte Haut, und das Entsetzen in den Augen und das wunderbare Zappeln, und die feuchten Lippen und die feuchten Zähne und der zurückgebogene Hals und das Winseln aus der tiefen Seele heraus, und das Weinen und Bitten; und wie so eine schreite, so nichts wissend, im Schimmer drin, so hochmütig hoch droben; wie man sich hinlegen möchte, daß sie einem auf die Brust steige und man an ihr hinaufsehen könne wie an ner schlanken Säule, Jesus und alle Heiligen, das haue einen zusammen, da wisse man, das mußt du haben und gehts gleich um die ewige Seligkeit, nach der ohnehin kein Hahn kräht.

Daß so ein Gewächs nicht für ihn gewachsen war, das habe er von vornherein kapiert. Daß so was wie das Allerheiligste sei, wo nur der Priester ran dürfe, habe er sich klargemacht. Aber darum allein habe sichs auch nicht gehandelt. Es sei um mehr gegangen, um viel mehr. Es sei um Leben und Tod gegangen, von Anfang an. Es sei beschlossene Sache gewesen von Anfang an: du stirbst mir. Mir stirbst du, mir! Er habe ihr aufgelauert, und sie sei geflohen wie 'n Reh. Da habe er hinter ihr her gelacht; du rennst mir ja ins Garn, habe er[382] gesprochen und habe Tag und Nacht die Augen und die Gedanken auf sie gerichtet, daß sie nicht mehr aus noch ein konnte. Sie sei ihm erschienen, jawoll, erschienen sei sie ihm, wenn er ihr befohlen habe, zu kommen; erschienen sei sie leibhaftig und habe gebettelt, er solle von ihr lassen. Das sei ganz und gar unmöglich, habe er ihr gesagt, sie müsse her, ihr Blut müsse seines werden, ihren Leib müsse er in Armen halten, ein Ende machen müsse er mit ihr, dann erst habe er sie, sonst sei kein Frieden mehr auf der Welt, für ihn nicht und für sie nicht. Dann habe er seinen Kriegsplan entworfen, habe den Idioten beschwatzt, daß er Feuer und Flamme war für die Jüdin und annehmen mußte, der Gimpel, sie sei auch in ihn verschossen. Da sei er närrisch geworden und habe keinen vernünftigen Gedanken mehr im Schädel gehabt und sei weich gewesen wie Äppelmus und habe alles für bare Münze genommen, jeden Schwindel und Phantasmus. Und dann hätten sie die Geschichte beraten und ausgekocht, hätten der Jüdin einen Zettel geschickt, das Mädchen, das ihn überbracht, hätten sie ein paar Tage drauf nach Pankow zu einem alten Pensionisten verdungen, und auf dem Zettel habe man der Jüdin geschrieben, ein Todkranker verlange nach ihr, und sein Seelenheil hänge davon ab, daß sie komme. Da sei sie auch richtig gekommen, es sei schon dunkel gewesen, der Idiot habe sie in den Keller geführt, und die Kellertür habe man zugesperrt. Den Idioten habe er dann in den Verschlag nebenan gelotst und eine Flasche Schnaps hingestellt und ihm gesagt, wenn er sich muckse, könne er seine Knochen numerieren lassen. Er solle bloß abwarten, die Chose mit der Jüdin werde schon für ihn gerichtet werden. Hierauf sei er wieder hinübergegangen, und die Jüdin sei dagestanden ...

Er unterbrach sich und merkte, wie das ganze Wesen seines unsichtbaren Gegenübers atemberaubtes Lauschen wurde, Einsaugen und Umklammern jeder Silbe. Dies befriedigte ihn nur matt, aber es trieb ihn weiter. Die Geschehnisse[383] wurden in seiner zurückwühlenden Vorstellung über die natürlichen Maße groß; sie waren in brandroten und violetten Dunst getaucht; er redete nicht so sehr von ihnen als sie zu ihm redeten und sich dadurch aufbauten, wie er sie bisher nicht erblickt. Indem er fortfuhr, veränderte sich seine Stimme, wurde zackiger, hohler und verriet zum erstenmal eine innere Regung, wild aufziehende Urqual.

Sie sei dagestanden. Und wie sie dagestanden sei, das habe ihm den letzten Rest gegeben.

»Wie denn?« fragte Christian kaum vernehmlich aus der Schwärze, »wie?«

Er könne es nicht beschreiben. Sie habe geschaut. Mit einem stolzen Staunen und Angstzucken um den Mund. Habe gefragt, wo der sei, zu dem man sie gerufen habe. Der sei auf dem Mond; der sei auf dem Stück Papier. Was man von ihr wolle? Warum die eiserne Tür dort versperrt sei? Habe seine Gründe. Man werde sie ihr doch mitteilen können, die Gründe. Was für ein Stimmchen, was für ein Glöckchen in der Kehle, ein Silberglöckchen! Das ging ins Ohr, als könne das Ohr Liebliches saufen. Gründe seien nicht viele, eigentlich gebe es nur einen einzigen. Verstehe sie nicht. Habe man deutlicher werden müssen. Verstehe sie noch immer nicht. Schaute. Habe man sie beim Arm gepackt, um die Schulter genommen, um den Hals genommen. Habe sie aufgeschrien; zu zittern angefangen; sei in den Winkel gerannt; habe die Hände vorgestreckt; sei das Kerzenlicht gerade auf ihr Gesicht gefallen; wie ne weiße Rose vorm Feuer; sei er auf sie zu; habe sie sich hintern Tisch geflüchtet. Habe gerufen: Schonung. Habe man gelacht. Sei aber bereits außer Rand und Band gewesen. So 'n Silberglöckchen in der Kehle. So 'n Weib! Herrgott, so 'n Weib! Kind noch, jedes Fäserchen rein, und so 'n Weib. Das traf; ins Mark schraubte sich das. Konnte man nicht mehr davon lassen, und wenn einen im nächsten Augenblick die Hölle verschluckt hätte.[384]

Habe er sie beruhigt; bißchen schön getan. Gesagt, sie möge einen anhören. Gut, sie wolle hören. Habe er gesprochen. Vor dem Tisch mit der Kerze er, hinter dem Tisch, gegen die Mauer, sie. Habe er gesagt, es sei ein grauliches Muß. Es gebe keinen Ausweg, für sie nicht und für ihn nicht. Er sei in der Verdammnis, sie müsse ihn erlösen. Er lechze und verdorre nach ihr, nach Fleisch und Seele, Mund und Leib, Blut und Atem, und so sei es bestimmt, seit die Welt bestehe. Er müsse zu ihr hin und in sie hinein, sonst käme die Welt ins Rasen und alles Leben werde Gift. Er müsse ihrer Unschuld habhaft werden, ob sie wolle oder nicht, gutwillig oder mit Gewalt, da könne ihr kein Herrgott helfen, das sei Gesetz über ihnen beiden und zur Stunde solle es wahr werden. Sie möge sie fahren lassen, die Unschuld, damit er mal was vom Himmelreich zu spüren kriege.

Darauf habe sie mit einer starren Miene geflüstert: Nein, niemals, nimmermehr.

Da habe er sie lange angesehen.

Da habe sie von Zeit zu Zeit, mit feuchten Blicken nach oben, immer wieder geflüstert: Nein, niemals, nimmermehr.

Er habe gesagt, sie solle die Hoffnung begraben, es werde, widerstrebe sie, nur um so fürchterlicher. Und er habe das Messer auf den Tisch gelegt.

Christian stöhnte in unmenschlichem Schmerz in sich hinein, als er dieses vernahm.

Darauf habe sie, fuhr Niels Heinrich mit seiner tatbeladenen Ruhe fort, ihn zu erweichen versucht. Er vergesse die Worte nie, aber er könne sie nicht wiederholen. Habe wie eine Fiebernde geredet, mit heißleuchtenden Augen, die Haare über den Wangen, flehentlich die Hände gebogen, über den Tisch gelehnt, mit der tiefen süßen Glockenstimme, habe von Menschen erzählt, die auf sie warteten, von Arbeit und Pflichten, wer alles sie brauche und was alles sie vor sich habe an Schwierigem, und was einen alles erfreue, und ob nichts[385] da sei, was ihn erfreue, und ob er das Verbrechen vor Gott und den Menschen auf sich nehmen wolle, ob ihm sein Leben nichts mehr gelte und so weiter. Aber es seien andre Worte gewesen, bessere, festere, genauere. Da habe ihn der Grimm gepackt, und er habe sie angeschrien, das sei hirnrissiges Gewäsche, und sie solle man aufmerken, Jüdin verdammte, die sie sei, solle aufmerken, was er ihr drauf zu antworten habe.

Da sei sie stille geworden, habe die Lippen herabgebogen und habe aufgemerkt. Er habe ihr gesagt, Verbrechen und solchen Quark, damit solle sie ihm gefälligst vom Halse bleiben. Verbrechen kenne er nicht. Das sei von den Leuten ausgedacht, die die Soldaten und die Gerichte dafür bezahlten, ihnen den Willen zu tun; die, wenn sie es für nützlich befänden, eben die Verbrechen selber begingen, im Namen des Staats, der Kirche, des Fortschritts oder der Freiheit. Habe einer die nötige Muskulatur und Schlauheit, so pfeife er auf die Gesetze. Die gälten bloß für die Dummköpfe und Feiglinge. Müsse der einzelne sich der Gewalt fügen, so müsse es ihm auch freistehen, sie auszuüben. Riskiere er die Rache und Strafe der Gesellschaft, so habe er auch das Recht, seine Gelüste zu befriedigen. Frage sich nur, was er auf seine Schultern nehmen könne, und ob er sich durch die Flausen und das von Lehrern und Pfaffen vorgekaute Larifari nicht ins Bockshorn jagen lasse. Käme es auf ihn an, Niels Heinrich Engelschall, so bliebe kein Stein auf dem andern stehen, alle Regel würde ausgerottet, alle Ordnung über den Haufen geworfen, alle Städte in die Luft gesprengt, alle Brunnen zugeschüttet, alle Brücken zerbrochen, alle Bücher verbrannt, alle Wege zerstört, und Vernichtung würde gepredigt, einer gegen alle, alle gegen einen, alle gegen alle. Mehr sei die Menschheit nicht wert; das könne er wohl behaupten, denn er habe sie studiert und durchschaut. Er kenne bloß Lügner und Gauner, erbärmliche Narren, Geizhälse und Streber; er habe die gemeinen Hunde kriechen sehen, wenn sie hochkommen[386] wollten, nach oben kriechen und nach unten kläffen. Er kenne die Reichen mit ihren satten, faulen Redensarten und die Armen mit ihrer niederträchtigen Geduld. Er kenne die Bestechlichen und die Nackensteifen, die Prahler und die Düsterlinge, die Flaumacher und die Blümeranten, die Diebe und die Fälscher, die Weiberhelden und die Kopfhänger, die Dirnen und ihre Zuhälter, Kupplerinnen und junge Herren, die Bürgermadams mit ihrer Scheinheiligkeit und ihrer Geilheit, den Neid da und die Heuchelei dort, und die Maskeraden und das Getue, er kenne alles, und ihm imponiere nichts, und er glaube an nichts außer an den Gestank und an den Jammer und an die Habsucht und an die Freßsucht und an die Tücke und an die Bosheit und an die Wollust. Eine Schandenwelt sei es, und hin werden müsse sie, und wer zu solcher Einsicht mal gelangt sei, der müsse den letzten Schritt tun, den allerletzten, wo die Verzweiflung und der Hohn durch sich selber erstickt werde, wo es nicht weiter gehe, wo man an der stumpfen Hautwand den Engel des Jüngsten Tages pochen höre, wo das Licht nicht mehr hindringe und auch die Nacht nicht mehr, wo man allein sei mit seiner Wut, daß man sich doch endlich spüre und vergrößere und was Heiliges packe und zerschmettere; was Heiliges, darum handle sichs; was Reines, darum handle sichs; und Herr werden darüber, es niederzwingen, es auslöschen.

Furchtbareres hatte Christian nie vernommen. Er starrte ins zerschellte All. Die Furie des Hasses stieg, auch in Wiedergabe ihres Ausbruchs noch, in kochender Lohe empor und äscherte die Blüten der Erde ein. Es konnte Greuelhafteres nicht ausgedacht werden. Das Schicksal des zehntausend Jahre alten Menschengeschlechts war gleichsam besiegelt. Aber daß er hergekommen war, daß er vermocht hatte, sich zu enthüllen, daß er da saß, im Finstern saß und sich wand, vom Ungeheuren berichtete und dabei in die Tiefe stürzte, die er aufgerissen hatte, das war ein Schimmer geheimnisvollster[387] Hoffnung für Christian, ein erster Dämmerstreifen auf dem bisher noch ungewissen, unbekannten Weg.

Und Niels Heinrich fuhr fort: die Jüdin habe langsam begriffen; habe ihn mit großen Kinderaugen angeschaut. Sie habe eine Frage an ihn gerichtet, welche, wisse er nicht mehr. Dann habe sie gesagt, sie sehe ein, daß sie verloren sei und daß sie als sein Opfer fallen müsse. Er habe geantwortet, es mache ihrem Verstand Ehre, daß sie es einsehe. Und sie wieder: ob er denn wisse, daß er damit sich selber vernichte? Darauf er: an Vergeltung glaube er nicht, das übrige sei seine Sache. Jetzt sei es des Schwatzens genug, die Zeit dränge, es müsse Schluß gemacht werden. Und sie: was sie tun solle? Diese Frage habe ihn ziemlich aus der Fassung gebracht, und er habe nichts erwidern gekonnt. Sie habe die Frage wiederholt, und er habe gemurmelt, die Kerze brenne schon herunter. Nun habe sie gefragt, ob er ihr Sicherheit des Todes geben könne? Ja, die könne er geben. Ob sie nicht vorher sterben dürfe, ehe er sie angreife? Nein. Sie habe nach dem Messer gefaßt. Er habe ihr das Messer entwunden. Die Berührung ihrer Hand habe ihn dermaßen rabiat gemacht, daß ihm gewesen sei, als knirsche die Kellermauer und als dröhne das Haus. Er solle sie doch sterben lassen durch ihren Willen, habe sie gebeten. Das könne er nicht, habe er geantwortet, er müsse an ihr lebendiges Herz heran, sonst sei ihm nicht geholfen. So möge er ihr eine Viertelstunde Zeit gönnen, sie wolle ihre Gedanken sammeln und ihn dann bitten, daß er sie töte. Das habe er bewilligt. Sei inzwischen hinausgegangen, um nach dem Idioten zu sehen. Der sei dagelegen, besoffen wie 'n Stint und habe alle viere von sich gestreckt. Das sei ihm lieb gewesen; mit dem habe man nun anstellen können, was immer man gewollt. Habe sich auch später erwiesen, wie er ihn hinübergeschleppt habe; und das Vieh sei immer noch der Meinung, man werde ihn heraushauen, wenn er bis zuletzt seinen, Niels Heinrichs Namen, nicht in den[388] Mund nehme. Als er nun zur Jüdin zurückgekehrt, sei sie an die Mauer gelehnt gewesen, mit geschlossenen Augen. Sie habe ein bleiches Gesicht gehabt, aber von Zeit zu Zeit habe sie gelächelt. Von ihm befragt, warum sie lächle, habe sie geschwiegen, habe ihn aber höchst sonderbar angesehen, als besinne sie sich auf etwas. Er sei hingegangen, hinter den Tisch, sie habe sich nicht von der Stelle gerührt und er habe sie an der Schulter gepackt. Sie habe die Hände aufgehoben, und er habe bemerkt, daß sie, während er draußen gewesen, die Adern an ihren Handgelenken durchgeschnitten habe. Das Blut sei dick heruntergeronnen. Sie müsse es mit einer Glasscherbe getan haben, die zwischen Mauersteinen gesteckt. Da sei er in die helle Tobsucht geraten, wie wenn es drauf und dran gewesen wäre, daß sie ihm einer wegnähme. Er habe sie an den Haaren zu Boden gerissen.

Sie habe geschrien. Einen einzigen, langen Schrei. Den Schrei höre er noch jetzt.

Glied um Glied, Hauch um Hauch, Zuckung um Zuckung sei sie sein geworden. So nur könne man besitzen; so und nicht anders. Himmels-, Gottes-, Erdenseligkeit.

Er habe nicht bereut, er werde nicht bereuen. Aber den Schrei, den höre er immerfort und immerfort.

Er verstummte. Die Lautlosigkeit in dem finstern Gemach war so groß, daß sie sich in den Ecken drohend zu sammeln schien, um die Wände zu sprengen.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 380-389.
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