26

[397] Als Michael an Johannas Seite die Kirche verließ, war er von dem Erlebnis der Stunde durchwühlt.

Sie fuhren bis zur Schönhauser Allee, dann gingen sie zu Fuß. Das Schneegestöber und der hochliegende Schnee machte dem Hinkenden das Gehen doppelt beschwerlich.[397]

Er hatte während der ganzen Fahrt geschwiegen, obgleich sich in seinem Gesicht Empfindungen und Gedanken mit pathetischer Heftigkeit verrieten. Sich zu äußern, hatte er erst gelernt; früher war alles in ihm erstickt. Seit er es gelernt hatte, ergriff er den Anlaß mit Begier; das Wort war frisch, die Gebärde beladen und übermäßig; der Ton, in dem er sprach, trotzte gegen sein Alter; mit schrillen Akzenten betäubte er Anfälle von Schüchternheit; aus Furcht, nicht so ernst genommen zu werden, wie er sich selbst, wie ihm seine Wirrnisse, seine Erkenntnisse, sein neues Mitleben erschienen, verteidigte er gewagte Behauptungen noch hartnäckig, während seine Überzeugung schwankend wurde.

Auf dem Hinweg hatte er immer wieder von Christian zu sprechen begonnen. Sein Gemüt war erfüllt von Christian. Verehrung, halb zaghaft, halb überschwenglich, äußerte sich in vielfacher Weise. Er hatte des Aufblicks entbehrt, sein Geist der Richtpunkte und der Trunkenheit der Jugend; nun gab er sich desto williger hin. Doch sah er, seiner Grüblernatur gemäß, an diesem einfachen Menschen Rätsel und Probleme, und hierin konnte ihn Johanna eines Besseren nicht belehren. Sie wich aus. Der Knabe war ihr zu stürmisch, zu unbedingt, zu fordernd. Er verletzte die Schamhaftigkeit ihres Gefühls, er zerriß immerfort Schleier. Gleichwohl fesselte sie sein Wesen; es hielt sie in Unruhe und leiser Qual. Sie brauchte Unruhe und leise Qual. Sie konnte sich einbilden, ihn zu schützen, und so hatte sie eine Aufgabe, so war sie besser vor sich selbst geschützt.

Er sagte, die Musik sei es nicht gewesen, die ihn überwältigt habe. Solche Musik sei eine schwere Formensprache, und um das fehlende Wissen davon dürfe man sich nicht durch den Klang Herumlügen, scheine ihm. Man müsse wissen, man müsse lernen.

»Was war es also? Was hat Eindruck auf Sie gemacht?« forschte Johanna, die den Knaben abwechselnd mit Du und Sie[398] anredete, je nach ihrer Laune und Sympathie, je nachdem er ihrer zu bedürfen schien oder nicht. Ihre Frage enthielt nur oberflächliche Neugier. Sie war müde vom Weg, müde vom Tag, unlustig zum Wort.

»Die Kirche war es,« sprach Michael, »der Lobgesang auf Christus, die andächtige Menge.« Er stockte und senkte den Kopf. Als Kind und bis vor kurzem noch habe er nur mit Haß an Jesus Christus denken können, fuhr er mit seiner ein wenig heiseren und gebrochenen Knabenstimme fort; dem draußen im Lande jüdisch erzogenen Juden, der von Andersgläubigen Hohn und Beschimpfung erfahren, sei es eingefleischt. Christus sei ihm der Feind, der, der sein Volk verlassen und verleugnet habe, der Abtrünnige, die Ursache aller Leiden. »Ich weiß es noch, wie ich an Kirchen vorübergeschlichen bin,« sagte Michael, »ich weiß es noch, mit welcher Furcht und welchem Zorn. Ruth kannte so etwas nicht; Ruth hatte keinen Sinn für so bittere Dinge. Für Ruth war alles süß und hell. Sie flog über das Gemeine hinüber. Bei mir fraß es, und ich hatte niemand, der mich hörte.«

Aber eines Abends, wenige Tage vor ihrem Verschwinden, habe ihm Ruth, ohne daß er darum gebeten und ohne daß er mit ihr gesprochen, nur als habe sie auf irgendeine Weise an ihn heran und seinen Drang und Druck lösen gewollt, eine Stelle aus dem Evangelium der Christen gelesen, die Stelle nämlich, wo der auferstandene Jesus den Simon Petrus fragt: Simon, liebst du mich? Simon antwortete: Du weißt, daß ich dich liebe; und Jesus sagt zu ihm: Weide meine Lämmer. Dann fragt er zum zweitenmal: Simon, liebst du mich? Ja, Herr, sagt Simon, du weißt, daß ich dich liebe. Und Jesus sagt: Weide meine Schafe. Und zum drittenmal fragt Jesus: Liebst du mich, Simon? Da ging es Petrus zu Herzen, daß er ihn dreimal gefragt, und er sagt: Herr, du weißt ja alles, du weißt, daß ich dich liebe. Und Jesus sagt: Weide meine Schafe. Und dann sagt er: Folge mir nach.[399]

Er habe seiner Schwester das Buch aus der Hand gerissen und darin geblättert und sich nicht verführen lassen wollen, aber ein Satz sei ihm aufgefallen, bei dem er verweilt habe, der Satz: Und er bedurfte es nicht, daß jemand ihm Kunde von einem Menschen gab, denn er wußte, was im Menschen war. Da sei kein Haß gegen Christus mehr in ihm gewesen. Doch an ihn glauben und sich an ihn wenden, das habe er nicht vermocht. Er meine nicht Frömmigkeit und Gebet, er meine die Idee, was dem Menschen Gewähr gebe und dem Geist Bestand. Das habe er heute erfaßt, bei dem hinaufströmenden Gesang und den tausenden erst erloschenen, dann feierlich brennenden Augen; liebst du mich, Simon, das habe er erfaßt bis auf den Grund; und das »folge mir nach« bis auf den Grund; und sein Jude-Sein, Verstoßen-Sein habe sich aus Schmerz und Scham in Besitztum und Stolz verwandelt, in die Gewißheit eines Dienens und einer besonderen Kraft; »es war wunderbar, wunderbar,« beteuerte er, »ich begreife es noch nicht, ich bin wie eine angezündete Lampe.«

Johanna erschrak vor dem Ausbruch einer ihr so fremden und unverständlichen Leidenschaft.

»Weide meine Schafe,« Michael sang es beinahe in den Schnee hinein; »weide meine Schafe.«

Erweckung, dachte Johanna mit mattem Grauen und Neid, er ist erweckt worden.

Es wurde ihr immer deutlicher, mit welcher Inbrunst sich der Knabe an Christian geschlossen hatte. Als sie in der Stolpischen Straße vor der versperrten Tür warteten und Christian mit Niels Heinrich herauskam, ohne Blick und Gruß, ohne die beiden zu gewahren vorüberging und mit dem schlotternden, schlürfenden, verzerrt aussehenden Menschen im Torweg verschwand, hinkte Michael ein paar Schritte hinterher, starrte in die von weißen Schneefunken durchwirbelte Dunkelheit des Hofes, kehrte sich dann zu Johanna um und sagte stehend: »Er soll nicht mit ihm gehen. Laufen Sie[400] ihm nach, rufen Sie ihn zurück. Er soll um Gottes willen nicht mit ihm gehen.«

Johanna, obgleich selbst erregt, beschwichtigte den Exaltierten. Sie blieb noch eine halbe Stunde bei ihm, zwang sich zur Unbefangenheit, kochte lässig plaudernd Tee und deckte den Tisch für das kalte Abendessen, dann ging sie nach Hause. Am andern Morgen um acht Uhr läutete Michael an ihrer Wohnung. Sie war kaum mit dem Anziehen fertig, und als sie zu ihm in den Flur trat, stand er bleich, übernächtig, nach Worten ringend da. »Wahnschaffe ist nicht heimgekommen,« murmelte er; »was soll man tun?«

Die erste Bestürzung niederkämpfend, mußte Johanna lächeln. Sie ergriff Michael bei der Hand und sagte: »Fürchte nicht für ihn, ihm geschieht nichts.«

»Sind Sie dessen so sicher?«

»Ganz sicher.«

»Wie geht das zu?«

»Ich weiß es nicht. Aber seinetwegen Angst haben, das könnte mir nie einfallen, das ist pure Gefühlsverschwendung.«

Ihre Ruhe und Bestimmtheit machten Eindruck auf Michael. Doch bat er sie, mit ihm zu gehen und bei ihm zu bleiben, wenn es ihr möglich sei. Sie überlegte und versprach es. Auf dem Rückweg gingen sie in eine Buchhandlung und kauften die Bücher, die Lamprecht bezeichnet hatte. Christian hatte Michael das Geld dazu gegeben. Er wollte mit Selbststudium heute gleich beginnen, aber er war nicht fähig, sich zu sammeln. Er saß am Tisch, blätterte, schlug Hefte auf, hob den Kopf und lauschte, preßte die Hände gegeneinander, sprang empor und ging im Zimmer herum, sah in den Hof, blickte forschend Johanna an, die an einer Stickerei arbeitete und fröstelnd und verhärmt in der Sophaecke kauerte und mit den kleinen weißen Zähnen an der Lippe nagte.

Es verging der Tag und die zweite Nacht, ohne daß Christian zurückkehrte. Die Ungeduld und Aufregung des Knaben war[401] kaum mehr zu zähmen. »Wir müssen uns rühren,« sagte er; »dasitzen und warten, das ist blödsinnig.« Johanna, die nun auch besorgt wurde, wollte zu Botho von Thüngen gehen oder zu Doktor Voltolini. Während sie den Hut aufsetzte, kam Lamprecht. Als er hörte, um was es sich handelte, sagte er: »Ihr tut Wahnschaffe keinen Gefallen, wenn ihr Lärm schlagt. Kommt er nicht, so hat er seine Gründe. Eure Angst ist kindisch und seiner unwürdig. Wir wollen lieber etwas Nützliches beginnen, mein Junge.«

Auch er hatte, nur in höherem Grade, geistig befestigt, die Zuversicht, die Johanna instinktiv empfunden. Noch einmal unterwarf sich Michael und war für zwei Stunden williger Schüler. Gegen Mittag, Johanna und Lamprecht waren weggegangen, kam der Fuhrmann Scholz von nebenan mit einer unbeglichenen Rechnung. Er sagte, er habe für die Bespannung zum Leichenkondukt der verstorbenen Mamsell Engelschall sein Geld noch nicht erhalten. Michael antwortete, er werde sein Geld kriegen, er solle morgen wieder vorsprechen, Wahnschaffe habe es sicher nur vergessen. Der Mann schimpfte und entfernte sich. Aber draußen im Hof stellte er sich zu einigen Leuten, und Michael hörte, daß sie gehässige Reden führten und daß dabei Christians Name genannt wurde. Er ging in den Flur und ans Tor; die giftigen Worte und Anspielungen im ordinärsten Jargon, die er vernahm, trieben ihm das Blut in die Wangen. Er hatte sofort das Gefühl einer Verhetzung. Ein rothaariger Bursche, Zimmermaler vom vierten Stock, tat sich besonders hervor. Er machte die andern auf Michael aufmerksam; einer warf eine rohe Bemerkung hin; die ganze Gesellschaft wieherte, und als Michael mit dem Mut seiner Entrüstung ins Freie trat, maßen sie ihn mit finsteren Blicken.

»Was habt ihr gegen Wahnschaffe?« fragte er laut und duckte sich wie eine Katze.

Sie wieherten abermals. Der Rothaarige streifte feixend[402] seine Rockärmel hoch. Ein Weib, das an einem Fenster oben lag, langte in die Stube zurück und schüttete einen Kübel voll schmutzigen Wassers herunter. Michael ward davon bespritzt. Dröhnendes Gelächter. Der Fuhrmann Scholz stemmte die Arme in die Hüften und sprach von Tagedieben, die das arbeitende Volk verhohnepiepelten mit Schnickschnack und Blendwerk. »Judenjüngel, mach dünne!« pfiff es Michael ins Gesicht. Er wurde bleich und tastete hinter sich an die Mauer.

Da kamen Botho von Thüngen und Johanna aus dem Torweg des Vorderhauses. Sie blieben stehen und schauten schweigend auf die Gruppe im Schnee und auf Michael. Sie begriffen. Johanna zog Michael ins Haus. Er berichtete atemlos. Er war so feurig, so edel empört, daß seine Züge Schönheit hatten.

Nach einer Weile klopfte es an die Tür. Amadeus Voß trat ein. Übertrieben höflich grüßend, schien er keineswegs überrascht, Johanna hier zu finden. Es schien ihn auch nicht weiter zu stören; er sagte, er müsse Christian Wahnschaffe sprechen. Thüngen erwiderte, man wisse nicht, wann Christian nach Hause komme, man wisse nicht, ob er heute überhaupt noch komme.

Voß sagte trocken, er habe Zeit und werde warten.

Johanna war wie gelähmt. Sie konnte sich nicht entschließen, fortzugehen. Nur keine Demonstrationen, nur kein Aufsehen. So kauerte sie sich in die Ecke des Ledersofas, einem Tiere gleich, das sich in einen Winkel verkriecht, und nagte mit den Zähnchen an der Lippe.

Sterben, dachte sie unvermittelt, sterben, das ist das einzige.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 397-403.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
Christian Wahnschaffe (2)
Christian Wahnschaffe (2); Roman in Zwei Banden
Christian Wahnschaffe Band 1
Christian Wahnschaffe Band 2
Christian Wahnschaffe: Roman

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Die Serapionsbrüder

Die Serapionsbrüder

Als Hoffmanns Verleger Reimer ihn 1818 zu einem dritten Erzählzyklus - nach den Fantasie- und den Nachtstücken - animiert, entscheidet sich der Autor, die Sammlung in eine Rahmenhandlung zu kleiden, die seiner Lebenswelt entlehnt ist. In den Jahren von 1814 bis 1818 traf sich E.T.A. Hoffmann regelmäßig mit literarischen Freunden, zu denen u.a. Fouqué und Chamisso gehörten, zu sogenannten Seraphinen-Abenden. Daraus entwickelt er die Serapionsbrüder, die sich gegenseitig als vermeintliche Autoren ihre Erzählungen vortragen und dabei dem serapiontischen Prinzip folgen, jede Form von Nachahmungspoetik und jeden sogenannten Realismus zu unterlassen, sondern allein das im Inneren des Künstlers geschaute Bild durch die Kunst der Poesie der Außenwelt zu zeigen. Der Zyklus enthält unter anderen diese Erzählungen: Rat Krespel, Die Fermate, Der Dichter und der Komponist, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Der Artushof, Die Bergwerke zu Falun, Nußknacker und Mausekönig, Der Kampf der Sänger, Die Automate, Doge und Dogaresse, Meister Martin der Küfner und seine Gesellen, Das fremde Kind, Der unheimliche Gast, Das Fräulein von Scuderi, Spieler-Glück, Der Baron von B., Signor Formica

746 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon