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[298] Die Witwe Engelschall war zunächst bestrebt, die Weiber aus der Stube zu entfernen. Es gelang nicht ohne grobe Deutlichkeit. »Na du mit deiner Himmelfahrtsneese, wirste bald raus machen?« fauchte sie die Schirmacher an. Isolde ging, aber es dünkte ihr, die Alte habe Böses vor.

An die Bettstatt tretend, sah die Witwe Engelschall, daß sie gerade noch Zeit hatte, den verlöschenden Lebensfunken zu nutzen. Und wenn es dafür zu spät war, entstand auch kein Schaden weiter, so war sie eben die erste, die an die Tote herankam. Bloß langes Besinnen gabs nicht.

Sie fing an zu sprechen; sie setzte sich auf den Stuhl, beugte sich nahe zu Karen und sagte mit erhobener Stimme, damit der Sterbenden kein Wort verlorengehe, sie habe Napoleonschnitten bringen gewollt, aber in der Konditorei habe es noch keine gegeben; zum Abend werde sie ein Huhn mit Reis kochen, oder ne steirische Poularde mit Apfelmus, das erfrische den Magen und mache eine schöne Verdauung. Ein Krankes brauche kräftige Kost, da dürfe man nicht den Pfennig besehen; überhaupt, sie sei ja nicht so; niemand könne ihr Schlimmes nachreden; für ihre Kinder habe sie immer das Herz auf dem rechten Flecke gehabt; sie habe sich redlich abrabatzen müssen, und auf Erkenntlichkeiten habe sie nie gerechnet; sie wisse ja, Undank sei der Welt Lohn, und in dem Punkte sei es beim eigenen Fleisch und Blut nicht besser bestellt als bei Krethi und Plethi.

Vom Tode eng umkreist, vernahm Karen nur den Ton der[298] scheinheiligen Rede; sie bewegte die Arme. Sie spürte, daß die Mutter etwas wollte; eine letzte Überlegung sagte ihr, was sie wollte; ein letzter Instinkt warnte sie, sich zu verraten; sie zwang sich, stillzuliegen und zuckte nicht mit der Wimper. Doch die Witwe Engelschall wußte sich auf der richtigen Bahn. Sie habe nie nach Reichtümern gestrebt, fuhr sie fort, und wenn einmal Überfluß gewesen sei, habe sie andre daran teilnehmen lassen. Ins Grab könne man ja nichts mitnehmen, und halte mans wie Eisen, das helfe nicht, da sei es viel gescheiter und nobler, man gebe es gleich her, daß man noch was mitgenießen könne von dem Glück, das die Leute darüber empfänden, und man hören könne, wie sie einen lobten. Ob sie sich noch erinnere, wie die alte Kränichen gestorben sei, die geizige Vettel, wie man da siebenundachtzig Goldstücke im Strohsack gefunden habe, und was da, nebst aller Freude, für ein Geschimpfe über das dreckige Luder gewesen sei. Ob sich Karen erinnere? Kein Mensch habe ihr eine Träne nachgeweint; in die Hölle gewünscht habe man sie.

Dann streckte die Witwe Engelschall ihre Hände aus und befühlte anscheinend achtlos das Kopfkissen. Unter dem Kopfkissen lag die Perlenschnur. Sie war noch nicht bis zu der Stelle gelangt, wo sie lag; Karen jedoch glaubte, sie hätte sie bereits ergriffen, hastete mit ihren Händen hin und wehrte den Händen der Mutter. Mit röchelnder Brust richtete sie sich ein wenig auf, um sich höher über das Kissen zu werfen. Die Witwe Engelschall murmelte zwischen den Zähnen: »Nachtijall, ick hör dir loofen;« sie war nun ihrer Sache sicher, wühlte blitzschnell die Hand unters Kissen und zog ein Stück des Gehänges heraus. Sie gab einen dumpfen Schrei von sich; der Anblick übergoß ihr fettes Gesicht mit Schweiß und violetter Röte, denn sie hatte erkannt, was da an fabelhaftem Wert ihrer wartete. Ihre Augen quollen aus den Höhlen, aus dem Mund sickerte Speichel, wieder und wieder packte sie zu, Karen drückte mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers auf das Kissen,[299] streckte die Arme drüber hinaus, krallte ihre Fingernägel in die Handgelenke der Räuberin, wimmerte in langgezogenen Lauten, aber in dem ungleichen Ringen mußte sie unterliegen, trotz der gespenstischen Kraft, die sie entwickelte; schon hatte die Witwe mit leisem Geheul die Perlenschnur aus dem Versteck gerissen und machte Miene, den Bereich der vor Wut um sich schlagenden, rasend aufstöhnenden, mit klappernden Zähnen unverständlich kreischenden Karen zu verlassen, da öffnete sich die Tür und Christian trat ein.

Die Frauenzimmer draußen hatten gemerkt, in Karens Stube geschehe Unheimliches; der Kampf zwischen Mutter und Tochter hatte nicht so lange gedauert, daß sie ihre Unschlüssigkeit und die Angst vor der Alten hatten überwinden können; sie empfingen Christian mit ängstlichen Gesichtern und deuteten gegen die Tür; sie wollten ihm in die Stube folgen, aber da er ihrer nicht achtete und die Tür hinter sich zuschlug, verharrten sie auf ihrem Platze und lauschten. Es blieb aber still drinnen.

Christian trat still an Karens Lager; er hatte begriffen, was vorging. Still nahm er der Witwe Engelschall die Perlenkette wieder ab. So erregt und von ihrer Gier entflammt sie auch war, wagte sie nicht eine Gebärde des Widerstands; sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, der ihren kochenden Grimm über seine Einmischung niederschlug. Es war ein sonderbarer Ausdruck: gebieterische Trauer, stolze Versunkenheit, ein Lächeln, das geistesabwesend war, ein grabender, fremder, abprallender Blick. Er legte die Kette auf Karens Brust, dann faßte er Karens beide Hände; sie schaute zu ihm empor, erleichtert, erlöst; ihr Leib warf sich unter Zuckungen, doch sie milderten sich, als er ihre Hände hielt; frierend, grauenvoll frierend drängte sie sich näher zu ihm, lallte, stammelte, bebte an allen Gliedern, hatte heiße Nässe in den Augen. Und er wich nicht zurück; er verspürte keinen Ekel vor dem riechenden Körper mit den aufgebrochenen Eiterschwären; er umfing sie mit dem[300] grabenden Lächeln und gewährte ihr noch ein wenig Wärme an seiner Brust, als sei es gar kein Mensch, sondern ein kleiner Vogel, der ihm vom Sturm zugeweht worden. Zuletzt lag sie ruhig, ohne Laut und ohne Regung.

Und so starb sie in seinen Armen.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 298-301.
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