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[200] In einer Pause während der Generalprobe wandelten Lorm und Emanuel Herbst im Foyer auf und ab. Sie sprachen über Lorms Rolle. »Etwas weniger Zurückhaltung, mein Lieber,« näselte Emanuel Herbst; »bei der Entdeckung des Betrugs im zweiten Akt und der Szene mit dem Bruder hatte ich stärkere Akzente erwartet. Sonst ist nichts zu erinnern.«

»Gut, ich werde noch Kulissenschmalz auflegen,« sagte Lorm trocken.

Viele der geladenen Gäste ergingen sich gleichfalls in dem gebogenen Längsraum. Bewundernde Blicke folgten Lorm. Ein junges Mädchen näherte sich mit einer Entschlossenheit, in der noch Kampf mit dem Entschluß lag. Sie überreichte Lorm einen Nelkenstrauß. Stumm zog sie sich wieder zurück, erschreckt von der eignen Kühnheit.

»Schönen Dank!« rief ihr Lorm freundlich zu und steckte die Nase in die Blumen.

»Na, du glücklicher Prasser, wie schmecken die gebrochenen Herzen?« erkundigte sich Emanuel Herbst spottend; »zu jedem Frühstück eines, wie? Oder mehr? Da kommt einen alten Knaben wie mich die Wehmut an.«

»Es ist des Guten zuviel,« sagte Lorm; »die armen Dinger[200] übernehmen sich. Schon des Morgens früh stehen welche an der Haustür und unterhandeln mit dem Pförtner; wenn der Chauffeur kommt, umflattern sie den. Manche wissen Bescheid, wie ich den Tag verbringe, und tauchen immer dort auf, wo man sie nicht vermuten sollte, zum Beispiel vorm Laden des Althändlers oder auf der Treppe beim Photographen. Von einer hat man mir erzählt, daß sie nächtelang vor dem Haus promeniert hat. Eine andre reiste mir auf meinen Gastspielreisen in jede Stadt nach. Dann die unseligen Briefe. Was da an Gefühl verschwendet, was da gebeichtet wird, in was für verwickelte Lebensverhältnisse man eingreisen soll; diese naiven Voraussetzungen! Man könnte sich den Teufel drum scheren, aber die Sache hat ja auch ihre sehr ernste Seite. Denn sieh mal, alle diese jungen Geschöpfe stecken Kapital in ein verlorenes Unternehmen, wenn ich mich so jobberhaft ausdrücken darf. Das muß sich rächen. Kluge Leute sagen, es ist gleichgültig, wofür die Jugend erglüht, wenn sie nur überhaupt erglüht. Stimmt aber nicht. Für einen Schauspieler soll eine anständige Jugend nicht erglühen. Versteh mich recht, ich will damit unsern Stand nicht verkleinern; er hat seine Meriten, ohne Frage; ich will mich auch selber nicht einen krummen Hund heißen. Ich bin, was ich bin. Ich weiß Bescheid. Jene wissen es nicht. Sie wollen, daß ich sei, was ich vorstelle, und das ist der Gipfel der Absurdität. Nein, eine anständige Jugend vergöttert nicht den Schauspieler, dieses Zerrbild des Helden.«

»Na, na, na,« machte Emanuel Herbst ironisch begütigend; »du bist zu streng, du siehst zu schwarz. Ich kenne ein paar immerhin recht erhebliche Personen, die dir einen Ehrenplatz unter den Sterblichen einräumen, von den Unsterblichen will ich mit Rücksicht auf deine üble Laune nicht reden. In deinen luziden Augenblicken bist du auch stolz darauf; was ich billige und in Ordnung finde. Wie verhält sich denn deine Frau zu[201] solchen Hypochondrien? Wäscht sie dir nicht manchmal gehörig den Kopf?«

»Mich dünkt,« erwiderte Lorm mit unbewegtem Gesicht, »mich dünkt, Judith hat ihre Enttäuschung schon hinter sich. Sie würde sich in dem Prozeß nicht zu deinem Anwalt hergeben. Ich glaube, da sind meine Lehren und Überzeugungen auf fruchtbaren Boden gefallen.«

Emanuel Herbst wiegte den Kopf und schob bedenklich die Lippen vor. Lorms Ton erregte seine Besorgnis. »Was macht sie eigentlich?« forschte er; »ich habe sie lange nicht gesehen. Ich hörte, sie sei krank gewesen?«

»Was sie macht, ist schwer zu sagen,« versetzte Lorm. »Krank? Nein. Krank war sie nicht, obschon sie viel zu Bett war. Sie hat da so ein paar kleine Bürgersfrauen, die ihr den Hof machen, ihr all ihre Zeit widmen und die sie fabelhaft dressiert hat. Sie behauptet, ihre Schlankheit geht verloren, und so hat sie sich von einem Modedoktor eine Hungerkur verschreiben lassen, die sie gläubig befolgt. Im übrigen ist mein Haus in bestem Zustand; tip-top; warum nicht? Wird ja zweimal wöchentlich bis in die letzten Winkel gescheuert. Bißchen mühsam, das. Die Küche ist vorzüglich; im Keller hab ich wieder einen prachtvollen Tropfen: Grand Puy Lacoste. Mußt mal mithalten. Prima Ware.«

»Schön, mein Lieber, schön, werde mithalten,« sagte Emanuel Herbst. Die Sorge war mit jedem Worte Lorms drückender geworden. Er kannte diese Kälte an ihm, hinter welcher die scheueste Verletzlichkeit wohnte; diese prinzliche Glätte, unter der schmerzhafte Wunden lange bluteten, dies Zwiegeschlechtliche, Unbestimmte, das zwischen Seelenkrankheit und Askese war. Er hatte Angst vor Zerstörung, Angst vor dem Wurm in der edlen Frucht.

Der Spielleiter gab das Zeichen zum Wiederbeginn, und alsbald schmetterte von der Bühne die Stimme aus Stahl über gebannte Menschen.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 200-202.
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