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[235] Nun war es so weit gekommen mit Johanna: sie hatte sich dem hingegeben, den sie verachtete. Endlich hatte sie gültige Beweise gegen sich selbst und brauchte keine Stimme mehr zu fürchten, die sie in Schutz nahm, keine Hoffnung mehr, die ihr riet, sich zu bewahren. Es war überflüssig geworden, den armen Leib zu schonen, nicht länger notwendig, die kleinen Prunk- und Ehrgeizlügen weiterzuspinnen; man war demaskiert; man war, in einem ganz andern Sinn, als die Moralisten ihrer Welt es verstanden, entehrt. Man war grauenhaft entehrt; man war für Zeit und Ewigkeit entehrt. Man war gebrandmarkt.

Nun hatte es seine Richtigkeit mit einem. Nun war alles in Ordnung.

Amadeus Voß war, als er ihr in der Stolpischen Straße aufgelauert, nicht mehr von ihrer Seite gewichen und hatte von Zeit zu Zeit mit manischer Eintönigkeit wiederholt: »Ich liebe Sie, Johanna.« Sie hatte nichts entgegnet. Die Lippen verpreßt, die Augen gesenkt, war sie gegangen, gegangen, länger als eine Stunde. Furcht vor Menschenblicken und Menschennähe hatte sie abgehalten, in eine Tramway zu steigen. Außerdem war er es, der den Weg wählte und stumm befahl. In der Wichmannstraße war er vor einem kleinen Café stehengeblieben. Er fragte nicht, forderte sie nicht auf, er ging einfach hinein und erwartete, daß sie ihm folgen werde. Sie folgte ihm.

In einem halbdunklen Winkel saßen sie einander gegenüber. Er nahm einen Bleistift aus der Tasche und zeichnete Hieroglyphen auf die weiße Tischplatte. Das beklemmende Schweigen hatte beinahe eine halbe Stunde gedauert; endlich[235] sagte er: »Nimmt man das Wort Liebe bloß in den Mund, so macht man sich schon einer gemeinen Trivialität schuldig. Es ist breitgewalkt wie ein Fladen und schmeckt nach Roman. Man schlüpft in andrer Leute Hemd. Im Gefühl ist es einzig, beispiellos, sonderbar, wunderbar, das nie dagewesene Abenteuer, der Traum der Träume; spricht man es aus, ists eine Vokabel aus dem Lesebuch. Aber wie sich verständigen, wenn es einem den Hals zuschnürt und einen so durchschüttert, daß man seine Tage wie ein Narr verbringt? Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt geworden und habe nichts von der wohltätigen Behexung erfahren. Keine Hand hat sich nach mir ausgestreckt, kein Auge hat mich angeschaut, kein gutes Wort hat mich getroffen, und alle, die ich in dieser mir lästerlichen Besessenheit wußte, hab ich mit meinem Haß bespien. Als ich ein Knabe war, gab es kleine erotische Kameradschaften unter uns; jeder Junge hatte sein Mädchen, mit dem er tändelte und allerhand Dummheiten trieb. Ich schloß mich davon aus. Ich haßte. Wenn sie am Sonntagnachmittag vors Dorf spazierten, ging ich dem einen oder andern Pärchen heimlich nach, und ließen sie sich irgendwo nieder, um zu plaudern und zu schäkern, so beobachtete ich sie aus gedecktem Hinterhalt mit Wut und Erbitterung. Sie haben ja ziemlich viel Scharfsinn, und so können Sie sich leicht ausmalen, wie mir zumute war, und wie mir später zumute war, und wie mir immer zumute war, bis auf den heutigen Tag. Sehnsucht, na ja, das ist auch so ein ausgelaugter Begriff. Ich habe bisweilen dahin und dorthin gelangt in der Verworrenheit und feigen Gier, bin erzittert, wenn mich ein Weiberärmel streifte, war der Hanswurst von einer, die es darauf anlegte, daß ich auf den Leim kroch, hab mir das Blut vergiften lassen von der Tänzerin, unseligen Andenkens, hab in der Gosse gefischt und mich mit dem Abhub besudelt, bloß um die Natur zum Schweigen zu bringen, die erbarmungslose Natur, die ein Erbteil des Bösen ist, das Werk Satans.«[236]

Er hatte den Blick nicht vom Tische erhoben, und die Hieroglyphen bedeckten die halbe Platte. »Ich will nichts versprechen mit meiner sogenannten Liebe,« fuhr er fort, und sein herabgebeugtes Gesicht zog sich schmerzhaft zusammen, »ich weiß nicht, wohin sie mich führt, und diejenige, die sich entschließt, mir zu gehören. Mir zu gehören, wie das klingt; schauerlich, nicht wahr? Ich weiß nur, daß die Betreffende sich um mein Seelenheil verdient machen würde, mich erlösen würde von der Folterbank. Sie werden antworten: Was kümmert mich Ihr Seelenheil? Was scheren mich die Folterqualen eines verlorenen Sünders? Gut, reden wir davon nicht. Aber denken Sie einmal nach, ob Sie das noch sonstwo auf dem Erdball gewinnen können, einen Menschen ganz und gar, einen Menschen mit Haut und Haar? Mir ist jeder Schritt und jeder Hauch von Ihnen grenzenlos teuer; die Wimpern Ihrer Augen und der Saum von Ihrem Rock enthalten für mich das gleiche Leben; in Ihren Gelenken bin ich drin, Ihr Herzschlag erschüttert mich. Es gibt eine Angst vor dem eignen Herzschlag; es gibt auch eine vor dem des andern. Soll ich mich noch weiter explizieren? Es ist genug. Worte sind so unheilig und immer bloß nebendran.«

Da war das Weib in Johanna erlegen. Grausige Neugier bekam Gewalt über sie; weil ihr alles Tun und Sein überhaupt fratzenhaft erschien, ließ sie sich müde und geschlagen in die verzweifelt aufgereckten Arme gleiten.

Sie fühlte sich ins Finstere gerissen; Hitze brütete, Glut fraß. Die rasende Leidenschaft, vor der sie bang abwehrend, frivol-anlockend, stumm-duldend, verwegen-schürend stand, hatte Züge von Raubgier und Kannibalismus. Ein orgiastisches Tier fiel sie an und stürzte zerknirscht vor ihr nieder. Zerstörende Ekstasen und zermalmende Ermattungen wirkten hart gegeneinander. Räume flohen fahl wie auf der Leinwand des Kinematographen; Stunden wurden nicht durchlebt, sie verwesten.[237]

Sie schrieb an ihre Schwester nach Bukarest: »Eine Bitte: Du befindest dich doch in unmittelbarer Nachbarschaft des Morgenlands, und dort soll es mächtige Zauberer geben. Könntest du nicht einem von ihnen mit deiner berühmten Verführungskunst auf den Leib rücken und ihm die Zauberformel ablisten, durch die man sein Ichbewußtsein los wird? Könnt ich zum Beispiel für das meine, durchlöchert und zerfranst, wie es ist, ein frisch gebügeltes und modern fassoniertes eintauschen, so wäre mir radikal geholfen; ich könnte einen bessern jüdischen Fabrikanten heiraten, Kinder in die Welt setzen, Kuglerbonbons verzehren, Badereisen machen, mit der Jeunesse dorée flirten, kurz, meine Ideale verwirklichen. Ich flehe dich an, Clarisse, such mir einen Zauberer, einen alten oder einen jungen, gleichviel; einen Zauberer, und ich bin gerettet.«

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 235-238.
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