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[249] Der Halbidiot sagte, es wispere ihm etwas in den Ohren. Dabei zitterte er wie Espenlaub und war grün im Gesicht.

Niels Heinrich versetzte ihm einen Fußtritt unter dem Tisch.

Wenn die Tür aufgerissen wurde, knallte das Gelächter und das Weibergekreisch in den Nebel hinaus. Man sah dann die Baustellen, an deren Rand die fliegende Destille, eine Blockhütte, errichtet war. Ein Stadtviertel sprang aus dem Boden. Balken, Gerüste und Krane bildeten ein Gewirr, ähnlich einem Wald, in dem ein Orkan gewütet hat. Grundmauern, Erdlöcher, Bretterhäuser, Mörtelgruben, Laufbrücken, Traversen, Gebirge von Ziegeln, Sandhaufen, Karren, alles[249] war trüb beleuchtet von den Bogenlampen, die wie in grauer Baumwolle staken. Da und dort glühten Trockenöfen in ihrer Vergitterung.

Dann fiel die Tür wieder zu, und man war in einer Höhle.

Es wispere ihm etwas in den Ohren, behauptete Joachim Heinzen. Er lauschte verständnislos den Zoten, mit denen ein alter Maurer die Tischgesellschaft zum Brüllen brachte. Niels Heinrich warf einen finstern Seitenblick auf den Idioten und verbot dem Wirt, sein Glas von neuem zu füllen; es blase bei dem ohnehin schon vom Turm.

Allmählich leerte sich der Raum. Es ging auf eins. Drei Dauersäufer saßen noch beim Ausschank. Der Nachtwächter kam auf der Runde vorüber, ließ sich einen Kümmel geben, verschwand wieder. Der Wirt warf mißbilligende Blicke auf die Spätlinge, setzte sich in den Verschlag und nickte ein.

Fünf Taler gebe er ihm, sagte Niels Heinrich leise zu dem Idioten, dann solle er sich dünne machen. »Vaziehste dir man nich, so lichste im Wurschtkessel, Junge,« sagte er. Der rote Geißbart stieg auf und ab. Um den Hals war ein dottergelber Schal so oft geschlungen, daß der Kopf auf einem Polster ruhte. Das Gesicht, fahl, sommersprossig, schien ohne Fleisch.

Joachim zitterte an Armen und Beinen. Draußen gingen Dirnen vorbei; ihr Lachen klang wie Tellergeklapper. »Fünf Daler; is jutt,« sagte der Idiot und grinste. Doch sah man, wie er zitterte. Den ganzen Tag, den vorigen und den vorvorigen war es so gewesen: er zitterte an Armen und Beinen. »Möcht mir ne Schwarzhaarige koofen,« murmelte er.

»Für Jeld kannste den Deibel danzen sehn, du Drehlade,« erwiderte Niels Heinrich.

Jetzt brachen auch die am Ausschank auf. Eine Uhr schnarrte. »Meine Herren, 's ist Polizeistunde,« mahnte der Wirt. Dreimal wurde gemahnt.

»Det Ding wer ick schon machen,« sagte der Idiot. »Möcht[250] eene haben, die soll sind wie 'n Karussell. Immer lustig, immer ringsrum.«

»Allemal, allemal. Junge; laß dir nur nich vom Luftballon überfahren dabei,« höhnte Niels Heinrich und starrte seine Finger an, als hätten die zu ihm geredet; »allemal, allemal.«

»Möcht eene haben, die soll sind wie 'n Papagei,« sagte der Idiot; »jeschmückt und ufklaviert.« Und blöde, mit einer zerbrochenen Stimme trällerte er: »Mädel, putz dich, wasch dich, kämm dich schön, denn du weeßt, wir wolln bei Iräberts jehn.«

Niels Heinrich schwieg verbissen.

»Möcht eene haben, die soll sind wie 'n Fräulein, elejant und hübsch,« fuhr jener fort und trank den Rest aus seinem Glase. »So eene möcht ich haben. Gib her die fünf Daler. Jungeken, gib her.« Plötzlich überflog ihn ein Schauder, seine Augen traten aus den Höhlen, und er gab ein Geräusch von sich, das eine grauenhafte Klangverwandtschaft mit einem Wimmern hatte.

Niels Heinrich erhob sich und riß ihn am Rockkragen empor. Er warf das Geld für die Zeche auf den Tisch und beförderte den Idioten ins Freie. Er packte ihn am Arm und zog den Wankenden, grauenhaft in sich Hineinwimmernden fort. Er sprach nicht. Die blaue Mütze tief in die Stirn geschoben, das Gesicht voll brütender Gedanken, achtete er nicht auf Schnee und Kot.

Der Nebel verschluckte ihre Gestalten.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 249-251.
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