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[361] Es war nun alles vorüber.

Der Besuch des Doktors war vorüber und der des Totenbeschauers; die Nachschau der behördlichen und der Feuerkommission; die Verhöre, die Protokollierungen, die Feststellungen.

Die Ursache des Brandes blieb unaufgeklärt; kein Schuldiger war zu finden. Philippine Schimmelweis hatte beteuert, die Flamme habe schon gelodert, als sie den Dachboden betreten. So nahm man an, die Selbstmörderin habe in ihren letzten Lebensminuten eine brennende Kerze umgestoßen.

Auch der Zudrang der Bekannten und der guten Freunde war vorüber. Dürre Gemüter übten sich in wohlfeilem Mitleid mit dem Kapellmeister Nothafft. Daß einer, der den Kopf so hoch getragen, ihn nun zur Erde beugen mußte, erweckte Befriedigung. Der bestrafte Übeltäter gewann wieder öffentliche Gunst. Damen der besseren Kreise erörterten die Frage, ob ein Verhältnis, welches mit Fug als ein verbrecherisches hatte bezeichnet werden müssen, so lange die arme Frau am Leben gewesen, nach Ablauf der gebührenden Frist zu einem gesetzlichen werden würde. In kupplerischer Milde waren sie entschlossen, alles Vergangene zu vergeben, im Falle dieses geschah.

Und das Leichenbegängnis war vorüber. An einem stürmischen Tag war Gertrud in Sankt Johannis begraben worden.

Der Pfarrer hatte eine Predigt gehalten, die Leidtragenden hatten ihre Hände frierend in die Manteltaschen und Müffe gesteckt. Als der Sarg in die Erde gesenkt wurde, rief der Inspektor Jordan: »Lebwohl, Gertrud! Auf Wiedersehn, mein Kind!«

Ein Mann drängte sich bis an den Rand des offenen Grabes[361] vor. Das war Herr Carovius. Er stierte über seinen Zwicker hinweg den Inspektor und Daniel und Lenore an. Es schien ihm, daß die letztere in ihrer Blässe und mit dem schwarzen Gewand schöner sei als die schönste Madonna, die je ein Italiener oder Spanier auf eine unvergängliche Leinwand gezaubert.

Er wandte erschrocken den Blick ab und wäre beinahe über die aufgeworfene Erde gestolpert.

Im Hinblick auf die Haltung Daniels sagte der Apotheker Pflaum: »Ich hätte mehr Gram und Trauer erwartet, nicht solche Verbissenheit.«

»Ein harter Mensch, ein äußerst harter Mensch,« bemerkte der Provisor Seelenfromm in seinem Schmerz.

Es wurde Daniel arg verdacht, daß er die Herren und Damen vom Theater, die sich vollzählig auf dem Kirchhof eingefunden hatten, mit barschem Hochmut behandelte. Als ihm mehrere die Hand reichten, nickte er nur kurz und verkniff die Augen hinter den kreisrunden Gläsern der Brille, die er seit einiger Zeit trug.

Der Amtsrichter Kleinlein sagte: »Er sollte dankbar sein für die christliche Bestattung, denn die behauptete Sinnesverwirrung der Frau ist trotz dahingehender Zeugenschaften durchaus nicht einwandfrei erwiesen.«

Lenore blickte in das offene Grab. Sie dachte: Schuld häuft sich auf, tiefe, tiefe Schuld.

Alles dies war jetzt vorüber. Daniel und Lenore und der alte Jordan waren in ihr Haus zurückgekehrt.

Quelle:
Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen, Berlin 88-911929, S. 361-362.
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