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[368] Während einer Probe zur Traviata herrschte Daniel die Sängerin Varini an: »Achten Sie auf den Einsatz und rennen Sie nicht aus dem Tempo. Es ist ja um verrückt zu werden, wie schamlos Sie in die Galerie hinaufquietschen; das soll doch Gesang sein und nicht Beifallsgebettel.«

Die Sängerin trat hochbusig an die Rampe. Ihre beleidigte Würde bildete etwas wie einen Pfauenschweif rund um ihre Hüften. »Wie können Sie es wagen?« schmetterte sie; »sofort leisten Sie Abbitte, oder Sie fliegen noch heute. Meine Macht werden Sie kennen lernen.«

Daniel verschränkte die Arme und ließ den Blick über die Musiker schweifen. Er sagte: »Leben Sie wohl, meine Herren. Da der Direktor zwischen mir und dieser Dame zu wählen hat, besteht kein Zweifel, daß meine Wirksamkeit hier zu Ende ist. In einem Institut, wo das Fleisch höher im Wert steht als die Musik, bin ich ohnedies überflüssig.«

Die übrigen Sänger und Sängerinnen hatten sich aus den Kulissen auf die Bühne gedrängt und schauten schweigend ins Orchester. Als Daniel seinen Platz am Dirigentenpult verließ, erhoben sich auf einmal sämtliche Musiker von ihren Sitzen. Es war ein unwillkürlicher und beinahe ergreifender Ausdruck von stummer Ehrerbietung. Hatten sie diesen Mann auch nicht geliebt, ihn auch stets wie einen fremden, bösen Störenfried im Bezirk ihrer gemütlichen Neigungen empfunden, so ahnten sie doch seine Markigkeit und seinen Adel.

Die Sängerin Varini erlitt einen hysterischen Weinkrampf. Der Direktor wurde herbeigerufen. Er versprach Abhilfe und[368] forderte Daniel in einem Brief auf, sich bei der Sängerin zu entschuldigen.

In aller Kürze schrieb Daniel zurück, daß er bei seinem kundgegebenen Vorsatz beharre; er könne mit der Sängerin Varini nicht mehr arbeiten und wenn sie nicht das Feld räume, müsse er es tun. Darauf wurde er von seiner Entlassung verständigt.

Am gleichen Abend saß er mit Lenore bei Tisch und nach einem langen Schweigen teilte er ihr in wenigen Worten das Geschehene mit. Lenore hatte nur einen erschrockenen Blick als Antwort.

»Es war höchste Zeit,« sagte Daniel, ohne von seinem Teller emporzuschauen, »ich hab's satt gehabt, über- und übersatt.«

»Und wovon willst du leben, du und dein Kind?« stammelte Lenore.

Sein Auge wurde noch finsterer, als es bisher gewesen. »Du weißt doch, der Gott, der die Lilien auf dem Felde ..., ich kenn das Sprüchlein nicht weiter; bin schwach in der Bibel.«

Sie sprachen dann nichts mehr. Das Fenster war offen; in der Erde war ein geheimes Beben, die warme Luft schmeckte widrig wie süßes Öl.

Als es von den Türmen zehn Uhr schlug, erhob sich Lenore und sagte gute Nacht.

»Gute Nacht,« antwortete Daniel mit gesenktem Haupt.

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Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen, Berlin 88-911929, S. 368-369.
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