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[376] Eine immer gleiche Angst erfüllte Lenores Brust, wenn sie Daniel betrachtete. Sie begriff ihn nicht, nichts an ihm begriff sie, und Freudigkeit haftete ihr nur noch aus vergangenen Tagen an.

Er schien sich ihrer kaum mehr zu entsinnen. Ein Wort hätte sie von ihrem Kummer befreit, irgendein Wort. Aber er sprach mit ihr wie er mit Philippine sprach, oder mit Frau Kütt, der Zugeherin.

Schlimm, mit Philippine zu hausen, den steten Haß der Unheimlichen zu spüren; zu ahnen, daß sie um Dinge wußte, die das Licht scheuten. Ihr das Kind ausgeliefert zu sehen, welches sie als ihr gehörig behandelte und mit solcher Eifersucht bewachte, daß sich ihr Gesicht vor Wut verzerrte, wenn Lenore bloß fünf Minuten bei ihm weilte.

Schlimm auch die Gesellschaft des stummen alten Vaters, der Tag und Nacht seinen mysteriösen Verrichtungen oblag und friedlos einem unbekannten Ziel zustrebte. Es war so schaurig oft, in den Stuben unten und in denen oben; Lenore hatte Angst vor dem Winter. Manchmal war ihr, als habe ihre Stimme einen unwirklichen Klang, und das Gewöhnlichste, was sie sagte, hatte einen düsteren Widerhall.

Sie flüchtete in ihre früheren Sehnsuchtsbilder, die Landschaften des Südens mit Hainen, Statuen und einem Meer von sagenhafter Bläue. Aber sie war nun doch zu reif, um sich an leeren Traumspielen dauernd zu genügen, lieber[376] wollte sie sich in mühseligster Arbeit vergessen. Erst wenn die Feder ihrer Hand entsank, in dem Leid um die schmucklosen Stunden, drängte es sie mit Macht ins Bilder- und Geisterreich zurück, aber da suchte sie Anhalt bei den Gegenständen ihrer sichtbaren Welt.

Da nahm sie etwa eine Birne und sann sich in das Innere der Frucht hinein, wie wenn es möglich wäre, drinnen in der engsten Sphäre Schutz zu gewinnen. Oder sie hielt ein farbiges Glas zwischen den Fingern und schaute hindurch, damit das Gewohnte schöner werde. Oder sie sah ins Herdfeuer und beobachtete lächelnd das romantische Züngeln der Flammen; oder sie hatte Begierde nach alten Gemälden, da feierte sie einen Morgen lang und ging ins Germanische Museum. Dort stand sie vor einer Kreuzigung, einem Abendmahl, ganz Auge, das Herz voll fließender Bewegung.

Dann regte sich ihre Vorliebe für Blumen stärker als je, und sie fing an, sich mit den Blumen abzugeben. Die meisten pflückte sie selbst, die nur in Gärten wuchsen, kaufte sie billig bei einigen Gärtnern. Nachdem sie mehrere Male gekommen war, nahmen die Gärtner kein Geld mehr und schenkten ihr Blumen, so viel und welche sie haben wollte. Sie trug sie heim und band sie zu Sträußen.

Eines Abends wurde sie dabei von Philippine gestört, die sie rief, weil die kleine Agnes fieberte. Lenore holte den Doktor, der beruhigte sie, und als sie wieder hinaufkam, blieb sie verwundert auf der Schwelle stehen. Der Blumenstrauß den sie gebunden, erschien ihr so schön, im Zusammenklang der Farben so eigen, daß sie sich unwillkürlich umschaute, im Wahn, ein Fremder habe während ihrer Abwesenheit das kunstvolle Werk getan.

Indessen meldete sich der Mangel im Hause. Metzger und Bäcker wollten die Waren nicht mehr auf Kredit liefern; fünf Menschen konnte Lenore aber mit ihrer Schreibarbeit nicht ernähren, von der Kleidung und der Miete zu schweigen. Wenn sie[377] sich auch noch so sehr anstrengte, konnte sie bloß das Notdürftigste beschaffen, und ihre Sorge wurde von Tag zu Tag größer.

Vom Schuldenmachen war sie eine Feindin, aber man konnte ja nicht hungern, und so mußten eben Schulden gemacht werden. Da waren denn bittere Demütigungen unvermeidlich, und mit Bangigkeit blickte Lenore in die Zukunft. Sie zerbrach sich den Kopf mit Pläneschmieden, beklagte ihre Schwäche, ihre lückenhafte Bildung, ihre und Daniels Verlassenheit und bemerkte voller Furcht, wie Philippine an der zunehmenden Bedrängnis ihre Freude zu haben schien.

Zweimal am Tag schickte der Drogist um das Geld für die letzte Rechnung, endlich kam er selber. Am Abend kam er und läutete. Philippine war grob mit ihm, darauf wurde er unverschämt und schrie, daß die Bewohner der untern Stockwerke ans Stiegengeländer eilten. Lenore lief herab, mit gefalteten Händen stand sie vor dem Manne, auch der Inspektor trat aus seiner Kammer und schaute seufzend über die Stiege.

Auch andere kamen am Abend und machten Skandal. Da huschte Philippine zu Lenore und sagte mit einem Lachen im Gesicht, als ob sie wunder was für ein Glück zu berichten habe: »Es ist schon wieder einer drunten; komm, Lenore, und geh ihm ein bißchen um den Bart, sonst holt er vielleicht gar die Polizei.«

War es dann still im Haus geworden, so räsonierte Philippine und maulte vor sich hin. »Schön dumm ist der Daniel. Könnt's haben wie ein Kaiser, wenn er sich an die richtige Person wenden tät. Ich weiß eine, die hat Geld und kriegt noch viel mehr, aber so ein Stockfisch wie der hat ja keinen Schimmer vom menschlichen Leben.« Und sie lachte ingrimmig oder schmiß irgendeinen Gegenstand wütend auf den Boden.

Lenore hörte nicht, was sie sagte. Ihr war alle Hoffnung geraubt. Drei Monate war es nun her, daß Daniel in rätselhafter Untätigkeit verharrte. Bald war die Miete fällig und was sollte dann geschehen?[378]

Eines Morgens trat sie in Daniels Zimmer und redete ihn an: »Daniel, es ist kein Geld mehr da.«

Er saß lesend am Tisch und schaute sie an, als müsse er sich erst besinnen, wer sie sei. »Nur Geduld,« antwortete er, »ihr werdet nicht umkommen.«

»Ich tue ja, was möglich ist,« fuhr Lenore fort, »aber du, Daniel, wie willst du's nun einrichten mit der Wirtschaft? Ich kann mir nimmer helfen. Faß dich doch, Daniel, sag mir, wie du dir's denkst.«

»Ein Musiker muß arm sein, Lenore,« entgegnete Daniel mit Augen, die wie gefroren aussahen.

»Aber er muß auch leben, sollt ich meinen.«

»Vom Fraß allein kann man nicht leben, und für den Fraß kann ich nicht schuften.«

»Daniel, ach Daniel, wo bist du mit deinem Geist und Herzen!« rief Lenore verzweifelt.

»Dort, wo ich schon längst hätte sein sollen,« war seine finstere Erwiderung. Er erhob sich und sprach halblaut, das Gesicht von Lenore weggekehrt: »Nur jetzt keine Argumente, keine Triftigkeiten, keine Zwangsmaßregeln. Nur jetzt nicht, wo ich mit meinem Lichtstumpf noch an der Erde krieche und den Ausweg aus der Höhle suche. Man verreckt nicht so schnell, Lenore; der Magen ist ein elastisches Stück Haut.«

Er ging in die andere Stube, setzte sich an den Flügel und schlug ein schleppendes Baßmotiv an.

Lenore wandte sich gegen die Mauer und drückte die heiße Stirn in die verschränkten Hände.

Quelle:
Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen, Berlin 88-911929, S. 376-379.
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