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[359] Als eine halbe Stunde verflossen war, begann sich Philippine über das Ausbleiben Gertruds zu wundern. Sie schaute im Wohnzimmer nach, dann in Lenores Zimmer, dann eilte sie die Stiege hinauf und spähte durch die offene Tür in Daniels Stube. Daniel hatte aufgehört zu spielen und unterhielt sich mit Lenore. Philippine kehrte um; auf der Stiege begegnete ihr der Inspektor, der von seinem abendlichen Gang nach Hause kam. Sie zündete eine Kerze an und schaute in der Küche nach. Gertrud war nicht drinnen.

Es regnet doch, und ihr Mantel hängt am Halter und ihr Schirm steht da, fortgegangen kann sie also nicht sein, dachte Philippine. Sie setzte sich auf das Küchenbänkchen und starrte vor sich hin.

Etwas gräßlich Ahnungsvolles war in ihr. Sie witterte ein Unglück in der Luft. Abermals war eine halbe Stunde vergangen, da erhob sie sich mit der brennenden Kerze in der Hand, und es jagte sie hin und her, von der Stiege in die Stuben und zurück.

Plötzlich fiel ihr der Dachboden ein. Als sie sich des Aussehens Gertruds entsann, wie sie das Kind geküßt hatte, fiel ihr der Dachboden ein. War doch in jedem Hause und in[359] diesem besonders, der Dachboden der Raum, der die größte Anziehung auf sie ausübte und den ihre lichtscheuen Phantasien stets zum Schauplatz erwählten.

Rasch und geräuschlos stieg sie hinauf. Sie hielt den Leuchter vor sich her, starrte gegen den Balken, an dem eine Gestalt in Frauenröcken hing und drehte sich mit einem erstickten Gurgellaut rund um ihre Achse. Es erfaßte sie eine Art von Trunkenheit, ein fürchterlicher Trieb zu tanzen, und sie erhob das eine Bein, während die Zähne krampfhaft an den Nägeln der rechten Hand herumbissen. Gleichzeitig dünkte es sie, als befehle ihr jemand mit starker Stimme: Zünde an! Zünde an!

Neben der Kaminmauer war ein Haufen von Papier und alten Zeitungen. Sie stürzte auf die Knie und schrie. »Lichterloh!« schrie sie, »lichterloh!« Dann stieß sie Laute aus, die wie Huhu und ioi-ioi klangen, halb schaudernd und halb jauchzend.

Der Papierhaufen flammte auf, dann lief sie mit markerschütterndem Gebrüll die Stiegen hinunter.

Ein paar Minuten später war das Haus in Aufruhr. Daniel stürzte die Treppe empor, hinter ihm Lenore. Aus den tiefer gelegenen Wohnungen kamen die Frauen und kreischten nach Wasser. Daniel und Lenore kehrten um und schleppten ein großes mit Wasser gefülltes Schaff hinauf. Schon wurde auf dem Platz Feuer gerufen, fremde Männer drangen ins Haus, und mit Hilfe der vielen Arme wurde der Brand im Keim gelöscht.

Der Inspektor war es, der die tote Gertrud zuerst entdeckte. In Glut und Asche stehend, brach er mit dumpfem Seufzen, wie von einem Beilhieb getroffen, zusammen. Die fremden Männer trugen den Leichnam herab, an dem die angesengten Kleider noch rauchten.

Philippine war verschwunden.[360]

Quelle:
Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen, Berlin 88-911929, S. 359-361.
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