Erster Aufzug

[322] Prachtvoller Saal in deutscher Renaissance mit schwerem Plafond aus geschnitztem Eichenholz. Die Wände sind bis zur halben Höhe mit dunklen Holzskulpturen bekleidet; darüber an beiden Seiten verblaßte Gobelins. Nach hinten oben ist der Saal durch eine verhängte Galerie abgeschlossen, von der links eine monumentale Treppe bis zur halben Tiefe der Bühne herabführt. In der Mitte unter der Galerie befindet sich die Eingangstür mit gewundenen Säulen und Frontispiz. An der rechten Seitenwand ein geräumiger hoher Kamin, weiter vorn ein Balkonfenster mit geschlossenen schweren Gardinen; an der linken Seitenwand vor dem Treppenfuß eine geschlossene Portiere. Vor dem Fußpfeiler des freien Treppengeländers steht eine leere dekorative Staffelei; links vorn befindet sich eine breite Ottomane; in der Mitte des Saales ein vierkantiger Tisch, um den drei hochlehnige Polstersessel stehen. Links vorn ein kleiner Serviertisch, daneben ein Lehnsessel. Der Saal ist durch eine auf dem Mitteltisch stehende, tiefverschleierte Petroleumlampe matt erhellt. Alwa Schön geht vor der Eingangstür auf und nieder. Auf der Ottomane sitzt Rodrigo, als Bedienter gekleidet. Rechts in dem Lehnsessel, in schwarzem, enganliegenden Kleid, tief in Kissen gebettet, einen Plaid über den Knien, sitzt die Gräfin Geschwitz. Neben ihr auf dem Tisch steht eine Kaffeemaschine und eine Tasse mit schwarzem Kaffee. Rechts und links vom Zuschauer aus.


RODRIGO. Er läßt auf sich warten wie ein Konzertmeister!

DIE GESCHWITZ. Ich beschwöre Sie, sprechen Sie nicht!

RODRIGO. Es soll einer die Klappe halten, wenn er den Kopf so voll Gedanken hat wie ich! – Es will mir ganz und gar nicht einleuchten, daß sie sich dabei sogar noch zu ihrem Vorteil verändert haben soll!

DIE GESCHWITZ. Sie ist herrlicher anzuschauen als ich sie je gekannt habe![323]

RODRIGO. Behüte mich der Himmel davor, daß ich mein Lebensglück auf Ihre Geschmacksrichtungen gründe! Wenn ihr die Krankheit ebensogut angeschlagen hat wie Ihnen, dann bin ich pleite! Sie verlassen die Isolierbaracke wie eine verunglückte Kautschukdame, die sich aufs Kunsthungern geworfen hat. Sie können sich kaum mehr die Nase schneuzen. Erst brauchen Sie eine Viertelstunde, um Ihre Finger zu sortieren, und dann bedarf es der größten Vorsicht, damit Sie die Spitze nicht abbrechen.

DIE GESCHWITZ. Was uns unter die Erde bringt, gibt ihr Kraft und Gesundheit wieder.

RODRIGO. Das ist alles schön und gut. Ich werde aber doch vermutlich heute abend noch nicht mitfahren.

DIE GESCHWITZ. Sie wollen Ihre Braut am Ende gar allein reisen lassen?

RODRIGO. Erstens fährt doch der Alte mit, um sie im Ernstfalle zu verteidigen. Meine Begleitung kann sie nur verdächtigen. Und zweitens muß ich hier noch abwarten, bis meine Kostüme fertig sind. – Ich komme immer noch früh genug über die Grenze. Hoffentlich legt sie sich derweil auch noch etwas Embonpoint zu. Dann wird geheiratet, vorausgesetzt, daß ich sie vor einem anständigen Publikum produzieren kann. Ich liebe an einer Frau das Praktische; welche Theorien sich die Weiber machen, ist mir vollkommen egal. Ihnen nicht auch, Herr Doktor?

ALWA. Ich habe nicht gehört, was Sie sagten.

RODRIGO. Ich hätte meine Person gar nicht in das Komplott verwickelt, wenn sie mir nicht vor ihrer Verurteilung schon immer die Plauze gekitzelt hätte. Wenn sie sich im Ausland nur nicht gleich wieder zuviel Bewegung macht! Am liebsten nähme ich sie auf ein halbes Jahr mit nach London und ließe sie Plumkakes futtern. In London geht man schon allein durch die Seeluft auf. Außerdem fühlt man in London auch nicht bei jedem Schluck Bier immer gleich die Schicksalshand an der Gurgel.

ALWA. Ich frage mich seit acht Tagen, ob sich jemand, der zu Zuchthausstrafe verurteilt war, wohl noch zur Hauptfigur in einem modernen Drama eignen würde.

DIE GESCHWITZ. Käme der Mensch nur endlich mal.[324]

RODRIGO. Ich muß hier auch meine Requisiten noch aus dem Pfandleihhaus auslösen; sechshundert Kilo vom besten Eisen. Der Transport kostet mich immer dreimal mehr als meine eigene Fahrkarte. Dabei ist die ganze Ausrüstung keinen Hosenknopf wert. Als ich schweißtriefend damit im Pfandhaus ankam, fragten sie mich, ob die Sachen auch echt seien. – Die Kostüme hätte ich mir eigentlich richtiger im Ausland anfertigen lassen sollen. Der Pariser zum Beispiel merkt auf den ersten Blick, wo man seine Vorzüge hat. Da dekolletiert er tapfer drauflos. Aber das lernt sich nicht mit untergeschlagenen Beinen; das will an klassisch gebildeten Menschen studiert sein. Hier haben sie eine Angst vor der bloßen Haut wie im Auslande vor den Dynamitbomben. Vor zwei Jahren wurde ich im Alhambra-Theater zu fünfzig Mark Strafe verknallt, wie man sah, daß ich ein paar Haare auf der Brust habe, nicht so viel wie zu einer anständigen Zahnbürste nötig sind. Aber der Kultusminister meinte, die kleinen Schulmädchen könnten darüber die Freude am Strümpfestricken verlieren. Seitdem lasse ich mich jeden Monat einmal rasieren.

ALWA. Wenn ich jetzt nicht meine ganze geistige Spannkraft zu dem »Weltbeherrscher« nötig hätte, möchte ich das Problem wohl auf seine Tragfähigkeit erproben. Das ist der Fluch, der auf unserer jungen Literatur lastet, daß wir viel zu literarisch sind. Wir kennen keine anderen Fragen und Probleme als solche, die unter Schriftstellern und Gelehrten auftauchen. Unser Gesichtskreis reicht über die Grenzen unserer Zunftinteressen nicht hinaus. Um wieder auf die Fährte einer großen gewaltigen Kunst zu gelangen, müßten wir uns möglichst viel unter Menschen bewegen, die nie in ihrem Leben ein Buch gelesen haben, denen die einfachsten animalischen Instinkte bei ihren Handlungen maßgebend sind. In meinem ›Erdgeist‹ habe ich schon aus voller Kraft nach diesen Prinzipien zu arbeiten gesucht. Das Weib, das mir zu der Hauptfigur des Stückes Modell stehen mußte, atmet heute seit einem vollen Jahr hinter vergitterten Fenstern. Dafür wurde das Drama sonderbarerweise allerdings auch nur von der freien literarischen Gesellschaft[325] zur Aufführung gebracht. Solange mein Vater noch lebte, standen meinen Schöpfungen sämtliche Bühnen Deutschlands offen. Das hat sich gewaltig geändert.

RODRIGO. Ich habe mir Trikots im zartesten Blau- Grün anfertigen lassen. Wenn die im Ausland keinen Sukzeß haben, dann will ich Mausefallen verkaufen. Die Schamhöschen sind so graziös, daß ich mich damit auf keine Tischkante setzen kann. Der vorteilhafte Eindruck wird nur durch meine fürchterliche Plauze gestört, die ich meiner tätigen Mitwirkung in dieser großartigen Verschwörung zu danken habe. Bei gesunden Gliedern drei Monate lang im Krankenhaus liegen, das muß den heruntergekommensten Landstreicher zum Mastschwein machen. Seit ich heraus bin, futtere ich nichts als Karlsbader Pastillen; Tag und Nacht habe ich Orchesterprobe in den Gedärmen. Bis ich über die Grenze komme, werde ich so ausgeschwemmt sein, daß ich keinen Flaschenstöpsel mehr hochheben kann.

DIE GESCHWITZ. Wie ihr gestern im Krankenhaus das Wachtpersonal aus dem Wege ging, das war ein erquickender Anblick. Der Garten war ausgestorben. In der herrlichsten Mittagssonne wagten sich die Rekonvaleszenten nicht aus den Haustüren. Ganz hinten bei der Isolierbaracke trat sie unter den Maulbeerbäumen vor und wiegte sich auf dem Kies in den Knöcheln. Der Portier hatte mich wiedererkannt, und ein Assistenzarzt, der mir im Korridor begegnete, fuhr zusammen, als hätte ihn ein Revolverschuß getroffen. Die Krankenschwestern huschten in die Säle oder blieben an den Wänden kleben. Als ich zurückkam, war weder im Garten noch unter dem Portal eine Seele zu sehen. Die Gelegenheit hätte sich nicht schöner finden können, wenn wir die verfluchten Pässe gehabt hätten. Und jetzt sagt der Mensch, er fahre nicht mit!

RODRIGO. Ich verstehe die armen Spitalbrüder. Der eine hat einen wehen Fuß, der andere hat eine geschwollene Backe; da taucht die leibhaftige Todesversicherungsagentin mitten unter ihnen auf. In den Rittersälen, so heißt die gesegnete Abteilung, von der aus ich meine[326] Spionage organisierte, als sich da die Kunde verbreitete, daß die Schwester Theophila mit Tod abgegangen sei, da war keiner der Kerle im Bett zu halten. Sie kletterten an den Fenstergittern hinauf, und wenn sie ihre Leiden zentnerweise mitschleppten. Im Leben habe ich kein solches Fluchen gehört.

ALWA. Erlauben Sie mir, Fräulein von Geschwitz, noch einmal auf meinen Vorschlag zurückzukommen. Die Frau hat in diesem Zimmer meinen Vater erschossen; trotzdem kann ich in dem Morde wie in der Strafe nichts anderes als ein entsetzliches Unglück sehen, das sie betroffen hat. Ich glaube auch, mein Vater hätte, wäre er mit dem Leben davongekommen, seine Hand nicht vollständig von ihr abgezogen. Ob Ihnen Ihr Befreiungsplan gelingen wird, scheint mir immer noch zweifelhaft, obschon ich Sie nicht entmutigen möchte. Aber ich finde keine Worte für die Bewunderung, die mir Ihre Aufopferung, Ihre Tatkraft, Ihre übermenschliche Todesverachtung einflößen. Ich glaube nicht, daß je ein Mann soviel für eine Frau, geschweige denn für einen Freund aufs Spiel gesetzt hat. Ich weiß nicht, Fräulein von Geschwitz, wie reich Sie sind; aber die Ausgaben für diese Bewerkstelligungen müssen Ihre Vermögensverhältnisse zerrüttet haben. Darf ich Ihnen ein Darlehen von zwanzigtausend Mark anbieten, dessen Herbeischaffung in barem Geld für mich mit keinerlei Schwierigkeiten verbunden wäre?

DIE GESCHWITZ. Wie wir gejubelt haben, als die Schwester Theophila glücklich tot war! Von dem Tage an waren wir ohne Aufsicht. Wir wechselten nach Belieben die Betten. Ich hatte ihr meine Frisur gemacht und ahmte in jedem Laut ihre Stimme nach. Wenn der Professor kam, redete er sie per gnädiges Fräulein an und sagte zu mir: »Hier lebt sich's besser als im Gefängnis!« Als die Schwester plötzlich ausblieb, sahen wir einander gespannt an; wir beide waren fünf Tage krank; jetzt mußte es sich entscheiden. Am nächsten Morgen kam der Assistenzarzt. – »Wie geht es der Schwester Theophila?« – »Tot.« – Wir verständigten uns hinter seinem Rücken, und als er hinaus war, sanken wir uns in die[327] Arme: »Gott sei Dank! Gott sei Dank! – Welche Mühe es kostete, damit mein Liebling nicht verriet, wie gesund er schon war! – Du hast neun Jahre Gefängnis vor dir!« rief ich von früh bis spät. – Man läßt sie jetzt wohl keine drei Tage mehr in der Isolierbaracke.

RODRIGO. Ich habe volle drei Monate im Krankenhaus gelegen, um das Terrain zu sondieren, nachdem ich mir die Qualitäten zu einem so ausgedehnten Aufenthalt auch erst mühsam zusammenhausiert hatte. Jetzt spiele ich hier bei Ihnen, Herr Doktor, den Kammerdiener, damit keine fremde Bedienung ins Haus kommt. Wo hat je ein Bräutigam mehr für seine Braut getan. Meine Vermögensverhältnisse sind auch zerrüttet.

ALWA. Wenn es Ihnen gelingt, die Frau zu einer anständigen Künstlerin auszubilden, dann haben Sie sich um Ihre Mitwelt verdient gemacht. Mit dem Temperament und der Schönheit, die sie aus dem Innersten ihrer Natur heraus zu geben hat, kann sie das blasierteste Publikum in Atem halten. Dabei wäre sie durch die Wiedergabe der Leidenschaft davor geschützt, zum zweitenmal in Wirklichkeit zur Verbrecherin zu werden.

RODRIGO. Ich will ihr ihre Zicken schon austreiben!

DIE GESCHWITZ. Da kommt er!


Auf der Galerie werden Schritte laut; dann teilt sich der Vorhang über der Treppe, und Schigolch im langen schwarzen Gehrock, einen weißen Entoutcas in der Rechten, tritt heraus. Während aller drei Akte ist sein Sprechen von häufigem Gähnen unterbrochen.


SCHIGOLCH. Vermaledeite Finsternis! – Draußen brennt einem die Sonne die Augen aus.

DIE GESCHWITZ sich mühsam aus der Decke wickelnd. Ich komme schon!

RODRIGO. Gräfliche Gnaden haben seit drei Tagen kein Tageslicht mehr gesehen. Wir leben hier wie in einer Schnupftabaksdose.

SCHIGOLCH. Seit heute früh um neun fahre ich bei allen Lumpensammlern herum. Drei nagelneue Koffer, vollgestopft mit alten Hosen, habe ich über Bremerhaven nach Buenos Aires spediert. Die Beine baumeln mir wie[328] Glockenschwengel am Leib. Das soll von nun an ein anderes Leben werden!

RODRIGO. Wo wollt ihr denn morgen früh absteigen?

SCHIGOLCH. Hoffentlich nicht gleich wieder im Hotel Ochsenbutter!

RODRIGO. Ich kann euch ein ausgezeichnetes Hotel empfehlen. Ich wohnte dort mit einer Löwenbändigerin. Die Leute sind geborene Berliner.

DIE GESCHWITZ sich im Rohrstuhl aufrichtend. Helfen Sie mir doch!

RODRIGO eilt herbei und stützt sie. Dabei seid ihr dort sicherer vor der Polizei als auf dem hohen Turmseil!

DIE GESCHWITZ. Er will Sie nämlich heute nachmittag allein mit ihr reisen lassen.

SCHIGOLCH. Er leidet wohl noch an seinen Frostbeulen!

RODRIGO. Verlangt ihr denn von mir, daß ich in meinem neuen Engagement in Schlafrock und Pantoffeln debütiere?

SCHIGOLCH. Hm – die Schwester Theophila wäre auch nicht so prompt gen Himmel gefahren, wenn sie sich für unsere Patientin nicht so liebevoll erwärmt hätte.

RODRIGO. Wenn einer den Honigmond bei ihr abzudienen hat, wird sie sich noch ganz anders zur Geltung bringen. Es kann ihr jedenfalls nicht schaden, wenn sie sich vorher noch etwas auslüftet.

ALWA eine Brieftasche in der Hand, zur Geschwitz, die auf eine Stuhllehne gestützt am Mitteltisch steht. Diese Tasche enthält zehntausend Mark.

DIE GESCHWITZ. Ich danke, nein.

ALWA. Ich bitte Sie, sie zu nehmen.

DIE GESCHWITZ zu Schigolch. Kommen Sie doch endlich!

SCHIGOLCH. Geduld, mein Fräulein. Es ist ja nur der Katzensprung über die Spitalstraße. – In fünf Minuten bin ich mit ihr hier.

ALWA. Sie bringen sie her?

SCHIGOLCH. Ich bringe sie her. – Oder fürchten Sie für Ihre Gesundheit?

ALWA. Das sehen Sie doch, daß ich nichts fürchte.

RODRIGO. Der Herr Doktor ist nach dem letzten Drahtbericht auf der Reise nach Konstantinopel begriffen, um seinen »Erdgeist« von Haremsdamen und Eunuchen vor dem Sultan zur Aufführung bringen zu lassen.[329]

ALWA die Mitteltür unter der Galerie öffnend. Sie gehen hier näher.


Schigolch und die Gräfin Geschwitz verlassen den Saal. Alwa verschließt die Türe hinter ihnen.


RODRIGO. Sie wollten der verrückten Rakete noch Geld geben.

ALWA. Was geht Sie das an?!

RODRIGO. Mich honoriert man wie einen Lampenputzer, obschon ich sämtliche Schwestern im Spital habe demoralisieren müssen. Dann kamen die Herren Assistenzärzte und Geheimräte an die Reihe. Und dann ...

ALWA. Wollen Sie mir im Ernste weismachen, daß sich die Geheimräte durch Sie haben beeinflussen lassen?

RODRIGO. Mit dem Gelde, das mich diese Herren gekostet haben, könnte ich in Amerika Präsident der Vereinigten Staaten werden.

ALWA. Fräulein von Geschwitz hat Ihnen doch jeden Pfennig, den Sie ausgegeben haben, zurückerstattet. Soviel ich weiß, beziehen Sie außerdem noch ein monatliches Salär von fünfhundert Mark von ihr. Es fällt einem manchmal ziemlich schwer, an Ihre Liebe zu der unglücklichen Mörderin zu glauben. Wenn ich eben Fräulein von Geschwitz darum bat, meine Hilfe anzunehmen, so geschah es gewiß nicht, um Ihre unersättliche Goldgier aufzustacheln. Die Bewunderung, die ich vor Fräulein von Geschwitz in dieser Sache hegen gelernt, empfinde ich Ihnen gegenüber noch lange nicht. Es ist mir überhaupt unklar, was Sie an mich für Ansprüche geltend machen. Daß Sie zufällig bei der Ermordung meines Vaters zugegen waren, hat zwischen Ihnen und mir noch nicht die geringsten verwandtschaftlichen Bande geschaffen. Dagegen bin ich fest davon überzeugt, daß Sie, wenn Ihnen das heroische Unternehmen der Gräfin Geschwitz nicht zugute gekommen wäre, heute ohne einen Pfennig irgendwo betrunken im Rinnstein lägen.

RODRIGO. Und wissen Sie, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie das Käseblatt, das Ihr Vater redigierte, nicht um zwei Millionen veräußert hätten? – Sie hätten sich mit dem ausgemergeltsten Balettmädchen zusammengetan und wären heute Stallknecht im Zirkus Humpelmeier.[330] Was arbeiten Sie denn? – Sie haben ein Schauerdrama geschrieben, in dem die Waden meiner Braut die beiden Hauptfiguren sind und das kein Hoftheater zur Aufführung bringt. Sie Nachtjacke Sie! Sie Schnodderlumpen! Ich habe auf diesem Brustkasten noch vor zwei Jahren zwei gesattelte Kavalleriepferde balanciert. Wie das jetzt mit der Plauze werden soll, ist mir allerdings rätselhaft. Die Ausländerinnen bekommen einen schönen Begriff von der deutschen Kunst, wenn sie mir bei jedem Kilo Mehrgewicht den Schweiß aus den Trikots perlen sehen. Ich werde den ganzen Zuschauerraum verpesten mit meiner Ausdünstung.

ALWA. Sie sind ein Waschlappen.

RODRIGO. Wollte Gott, Sie hätten recht! Oder wollten Sie mich vielleicht beleidigen? – Dann setze ich Ihnen die Fußspitze unter die Kinnlade, daß Ihnen Ihre Zunge dort drüben an der Tapete spazierenkriecht.

ALWA. Versuchen Sie das doch!


Tritte und Stimmen werden von außen hörbar.


ALWA. Wer ist das ...?

RODRIGO. Sie können Gott danken, daß ich hier kein Publikum vor mir habe.

ALWA. Wer kann das sein?!

RODRIGO. Das ist meine Geliebte! Seit einem vollen Jahre haben wir uns jetzt nicht mehr gesehen.

ALWA. Wie wollten denn die schon zurück sein! – Wer mag da kommen! – Ich erwarte niemanden.

RODRIGO. Zum Henker, so schließen Sie doch auf!

ALWA. Verstecken Sie sich!

RODRIGO. Ich stelle mich hinter die Portiere. Da habe ich vor einem Jahr auch schon einmal gestanden.


Rodrigo verschwindet hinter der Portiere links vorn. Alwa öffnet die Mitteltüre, worauf Alfred Hugenberg, den Hut in der Hand, eintritt.


ALWA. Mit wem habe ich ... Sie? – Sind Sie nicht ...?

HUGENBERG. Alfred Hugenberg.

ALWA. Was wünschen Sie?

HUGENBERG. Ich komme von Münsterburg. Ich bin heute morgen geflüchtet.[331]

ALWA. Ich bin augenleidend. Ich bin gezwungen, die Jalousien geschlossen zu halten.

HUGENBERG. Ich brauche Ihre Hilfe. Sie werden sie mir nicht versagen. Ich habe einen Plan vorbereitet. – Hört man uns?

ALWA. Wovon sprechen Sie? – Was für einen Plan?

HUGENBERG. Sind Sie allein?

ALWA. Ja. – Was wollen Sie mir mitteilen?

HUGENBERG. Ich habe zwei Pläne nacheinander wieder fallenlassen. Was ich Ihnen jetzt sage, ist bis auf jeden möglichen Zwischenfall durchgearbeitet. Wenn ich Geld hätte, würde ich Sie nicht ins Vertrauen ziehen. Ich dachte zuerst lange daran ... Wollen Sie mir nicht erlauben, Ihnen meinen Entwurf auseinanderzusetzen?

ALWA. Wollen Sie mir bitte sagen, wovon Sie denn eigentlich sprechen?

HUGENBERG. Die Frau kann Ihnen unmöglich so gleichgültig sein, daß ich Ihnen das sagen muß. Was Sie vor dem Untersuchungsrichter zu Protokoll gaben, hat ihr mehr genützt als alles, was der Verteidiger sagte.

ALWA. Ich verbitte mir eine derartige Unterstellung.

HUGENBERG. Das sagen Sie so; das verstehe ich natürlich. Aber Sie waren doch ihr bester Entlastungszeuge.

ALWA. Sie waren der! Sie sagten, mein Vater habe sie zwingen wollen, sich selbst zu erschießen.

HUGENBERG. Das wollte er auch. Aber man glaubte mir nicht; ich wurde nicht vereidigt.

ALWA. Wo kommen Sie jetzt her?

HUGENBERG. Aus einer Besserungsanstalt, aus der ich heute morgen ausgebrochen bin.

ALWA. Und was beabsichtigen Sie?

HUGENBERG. Ich erschleiche mir das Vertrauen eines Gefängnisschließers.

ALWA. Wovon wollen Sie denn leben?

HUGENBERG. Ich wohne bei einem Mädchen, das ein Kind von meinem Vater hat.

ALWA. Wer ist Ihr Vater?

HUGENBERG. Er ist Polizeidirektor. Ich kenne das Gefängnis, ohne daß ich jemals drin war; und mich wird, so wie ich jetzt bin, kein Aufseher erkennen. Aber darauf rechne ich gar nicht. Ich weiß eine eiserne Leiter, von der man[332] vom ersten Hof aus aufs Dach und durch eine Dachluke unter den Dachboden gelangt. Vom Innern aus führt kein Weg dorthin. Aber in allen fünf Flügeln liegen Bretter und Latten unter den Dächern und große Haufen Späne. Ich schleppe die Bretter und Latten an fünf Enden zusammen und zünde sie an. Ich habe alle Taschen voll Zündmaterial, wie es zum Feuermachen gebraucht wird.

ALWA. Dann verbrennen Sie doch!

HUGENBERG. Natürlich, wenn ich nicht gerettet werde. Aber um in den ersten Hof zu kommen, muß ich den Schließer in meiner Gewalt haben, und dazu brauche ich Geld. Nicht daß ich ihn bestechen will; das würde nicht gelingen. Ich muß ihm das Geld vorher leihen, damit er seine drei Kinder in die Sommerfrische schicken kann. Dann drücke ich mich morgens um vier, wenn die Sträflinge aus geachteten Familien entlassen werden, zur Tür hinein. Er schließt hinter mir ab. Er fragt mich, was ich vorhabe; ich bitte ihn, mich am Abend wieder hinauszulassen. Und eh es hell wird, bin ich unter dem Dachboden.

ALWA. Wie sind Sie aus der Besserungsanstalt entkommen?

HUGENBERG. Ich bin zum Fenster hinausgesprungen. Ich brauche zweihundert Mark, damit der Kerl seine Familie in die Sommerfrische schicken kann.

RODRIGO aus der Portiere tretend. Wünschen der Herr Baron den Kaffee im Musikzimmer oder auf der Veranda serviert?

HUGENBERG. Wo kommt der Mensch her?! – Aus derselben Türe! – Er sprang aus derselben Türe heraus!

ALWA. Ich habe ihn in Dienst genommen. Er ist zuverlässig.

HUGENBERG sich an die Schläfen greifend. Ich Dummkopf! – Ich Dummkopf!

RODRIGO. Ja, ja, wir haben uns hier schon gesehen! Scheren Sie sich zu Ihrer Frau Vize-Mama! Ihr Brüderchen möchte seinen Geschwistern gerne Onkel werden. Machen Sie Ihren Herrn Papa zum Großvater seiner Kinder. Sie haben uns gefehlt! Wenn Sie mir in den nächsten vierzehn Tagen noch einmal unter die Augen kommen, dann schlage ich Ihnen den Kürbis zu Brei zusammen.[333]

ALWA. Seien Sie doch ruhig!

HUGENBERG. Ich Dummkopf!

RODRIGO. Was wollen Sie mit Ihren Brennmaterialien! – Wissen Sie denn nicht, daß die Frau seit drei Wochen tot ist?

HUGENBERG. Hat man ihr den Kopf abgeschlagen?

RODRIGO. Nein, den hat sie noch. Sie ist an der Cholera krepiert.

HUGENBERG. Das ist nicht wahr.

RODRIGO. Was wollen Sie denn wissen! – Da, lesen Sie; hier! Zieht ein Zeitungsblatt hervor und deutet auf eine Notiz darin. »Die Mörderin des Dr. Schön ...« Gibt das Blatt an Hugenberg.

HUGENBERG liest. »Die Mörderin des Dr. Schön ist im Gefängnis auf unbegreifliche Weise an der Cholera erkrankt.« – Da steht nicht, daß sie gestorben ist.

RODRIGO. Was will sie denn sonst getan haben? Sie liegt seit drei Wochen auf dem Kirchhof. In der Ecke links hinten, hinter den Müllhaufen, wo die kleinen Kreuze sind, an denen kein Name steht, da liegt sie unter dem ersten. Sie erkennen den Platz daran, daß kein Gras darauf wächst. Hängen Sie einen Blechkranz hin und dann machen Sie, daß Sie wieder in Ihre Kinderbewahranstalt kommen, sonst denunziere ich Sie der Polizei. Ich kenne das Frauenzimmer, das sich durch Sie ihre Mußestunden versüßt.

HUGENBERG zu Alwa. Ist es wahr, daß sie tot ist?

ALWA. Gott sei Dank, ja! – Ich bitte Sie, mich nicht länger in Anspruch zu nehmen. Mein Arzt verbietet mir, Besuche zu empfangen.

HUGENBERG. Meine Zukunft ist so wenig mehr wert! Ich hätte das letzte Bißchen, das mir das Leben noch gilt, gerne an ihr Glück hingegeben. Pfeif drein! Auf irgendeine Art werde ich nun doch wohl zum Teufel gehen!

RODRIGO. Wenn Sie sich unterstehen und mir oder dem Herrn Doktor hier oder meinem ehrenwerten Freund Schigolch noch in irgendwelcher Weise zu nahe zu treten, dann verklage ich Sie wegen beabsichtigter Brandstifterei. Ihnen tun drei Jahre Zuchthaus not, damit Sie wissen, wo Ihre Finger nicht hineingehören. – Und jetzt hinaus![334]

HUGENBERG. Ich Dummkopf!

RODRIGO. Hinaus!! Wirft Hugenberg zur Tür hinaus. Nach vorne kommend. Nimmt mich wunder, daß Sie dem Lümmel nicht auch Ihr Portemonnaie zur Verfügung gestellt haben.

ALWA. Ich verbitte mir Ihre Unflätigkeiten! Der Junge ist im kleinen Finger mehr wert als Sie!

RODRIGO. Ich habe an dieser Geschwitz schon Genossenschaft genug. Soll meine Braut eine Gesellschaft mit beschränkter Haftpflicht werden, dann mag ein anderer vorangehen. Ich gedenke die pompöseste Luftgymnastikerin aus ihr zu machen und setze deshalb gerne mein Leben aufs Spiel. Aber dann bin ich Herr im Hause und bezeichne selber die Kavaliere, die sie bei sich zu empfangen hat.

ALWA. Der Junge hat das, was unserem Zeitalter fehlt. Er ist eine Heldennatur. Er geht deshalb natürlich zugrunde. Erinnern Sie sich, wie er vor Verkündigung des Urteils aus der Zeugenbank sprang und dem Vorsitzenden zurief: »Woher wollen Sie wissen, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie sich als zehnjähriges Kind die Nächte barfuß hätten in den Cafés herumtreiben müssen?!«

RODRIGO. Hätte ich ihm nur gleich eine dafür in die Fresse hauen können! – Gottlob gibt es Zuchthäuser, in denen man solchem Pack Achtung vor dem Gesetz einflößt.

ALWA. Er wäre so einer, der mir in meinem »Weltbeherrscher« Modell stehen könnte. Seit zwanzig Jahren bringt die Literatur nichts als Halbmenschen zustande; Männer, die keine Kinder machen und Weiber, die keine gebären können. Das nennt sich »modernes Problem«.

RODRIGO. Ich habe mir eine zwei Zoll dicke Nilpferdpeitsche bestellt. Wenn die keinen Sukzeß bei ihr hat, dann will ich Kartoffelsuppe im Hirnkasten haben. Sei es Liebe, seien es Prügel, danach fragt kein Weiberfleisch; hat es nur Unterhaltung, dann bleibt es stramm und frisch. Sie steht jetzt im zwanzigsten Jahr, war dreimal verheiratet, hat eine kolossale Menge Liebhaber befriedigt, da melden sich auch schließlich die Herzensbedürfnisse. Aber dem Kerl müssen die sieben Todsünden auf[335] der Stirn geschrieben stehen, sonst verehrt sie ihn nicht. Wenn der Mensch so aussieht, als hätte ihn ein Hundefänger auf die Straße gespuckt, dann hat er bei solchen Frauenspersonen keinen Prinzen zu fürchten. Ich miete eine fünfzig Fuß hohe Garage, da wird sie dressiert; und hat sie den ersten Tauchersprung exekutiert, ohne den Hals zu brechen, dann ziehe ich meinen schwarzen Frack an und rühre bis an mein Lebensende keinen Finger mehr. Bei ihrer praktischen Einrichtung kostet es die Frau nicht halb soviel Mühe, ihren Mann zu ernähren, wie umgekehrt. Wenn ihr der Mann nur die geistige Arbeit besorgt und den Familiensinn nicht in die Binsen gehen läßt.

ALWA. Ich habe die Menschheit beherrschen und als eingefahrenen Viererzug vor mir im Zügel fahren gelernt aber der Junge will mir nicht aus dem Kopf. Ich kann bei diesem Gymnasiasten wirklich noch Privatunterricht in der Weltverachtung nehmen.

RODRIGO. Sie soll sich das Fell getrost mit Tausendmarkscheinen tapezieren lassen! Den Direktoren zapfe ich die Gagen mit der Zentrifugalpumpe ab. Ich kenne die Bande. Brauchen sie einen nicht, dann darf man ihnen die Stiefel putzen, und wenn sie eine Künstlerin nötig haben, dann schneiden sie sie mit den verbindlichsten Komplimenten eigenhändig vom lichten Galgen herunter.

ALWA. In meinen Verhältnissen habe ich außer dem Tod nichts mehr in dieser Welt zu fürchten – im Reich der Empfindungen bin ich der ärmste Bettler! Aber ich bringe den moralischen Mut nicht mehr auf, meine befestigte Position gegen die Aufregungen des wilden Abenteurerlebens einzutauschen.

RODRIGO. Sie hatte Papa Schigolch und mich zusammen auf den Strich geschickt, damit wir ihr ein kräftiges Mittel gegen Schlaflosigkeit aufstöbern. Jeder bekam ein Zwanzigmarkstück für Reiseunkosten. Da sehen wir den Jungen im Café Nachtlicht sitzen. Er saß wie ein Verbrecher auf der Anklagebank. Schigolch beroch ihn von allen Seiten und sagte: »Der ist noch Jungfrau.«


Oben auf der Galerie werden schleppende Schritte hörbar.[336]


RODRIGO. Da ist sie! – Die zukünftige pompöseste Luftgymnastikerin der Jetztzeit!


Über der Treppe teilt sich der Vorhang, und Lulu im schwarzen Kleid auf Schigolchs Arm gestützt, schleppt sich langsam die Treppe herunter.


SCHIGOLCH. Hü, alter Schimmel! Wir müssen heute noch über die Grenze.

RODRIGO Lulu mit blöden Augen anglotzend. Himmel, Tod und Wolkenbruch!

LULU spricht bis zum Schluß des Aktes alles in munterstem Ton. Langsam! Du klemmst mir den Arm ein!

RODRIGO. Woher nimmst du die Schamlosigkeit, mit einem solchen Wolfsgesicht aus dem Gefängnis auszubrechen?!

SCHIGOLCH. Halt die Schnauze!

RODRIGO. Ich laufe nach der Polizei! Ich mache Anzeige! Diese Vogelscheuche will sich in Trikots sehen lassen. Da kosten schon die Wattons zwei Monatsgagen. – Du bist die perfideste Hochstaplerin, die je im Hotel Ochsenbutter Logis bezogen hat!

ALWA. Ich bitte Sie, die Frau nicht zu beschimpfen!

RODRIGO. Beschimpfen nennen Sie das?! – Ich habe mir dieser abgenagten Knochen wegen meinen Wanst angefressen! Ich bin erwerbsunfähig! Ich will ein Hanswurst sein, wenn ich noch einen Besenstiel hochstemmen kann! Aber mich soll hier auf dem Platze der Blitz erschlagen, wenn ich mir nicht eine Lebensrente von zehntausend Mark jährlich aus Ihren Betrügereien herausknoble! Das kann ich Ihnen sagen! Glückliche Reise! Ich laufe nach der Polizei! –


Ab.


SCHIGOLCH. Lauf, lauf!

LULU. Der wird sich hüten!

SCHIGOLCH. Den sind wir los. – Und jetzt schwarzen Kaffee für die Dame!

ALWA am Tisch links vorn. Hier ist Kaffee; man braucht nur einzuschenken.

SCHIGOLCH. Ich muß noch die Schlafwagenbillette besorgen.

LULU hell. O Freiheit! Herr Gott im Himmel!

SCHIGOLCH. In einer halben Stunde hol ich dich. Abschied feiern wir im Bahnhofsrestaurant. Ich bestelle ein Souper, das[337] bis morgen früh vorhält. – Guten Morgen, Herr Doktor!

ALWA. Guten Abend!

SCHIGOLCH. Angenehme Ruhe! – Danke, ich kenne hier jede Türklinke. Auf Wiedersehen! Viel Vergnügen! –


Durch die Mitteltür ab.


LULU. Ich habe seit anderthalb Jahren kein Zimmer gesehen – Vorhänge, Sessel, Bilder ...

ALWA. Willst du nicht trinken?

LULU. Ich habe seit fünf Tagen schwarzen Kaffee genug geschluckt. Hast du keinen Schnaps?

ALWA. Ich habe Elixier de Spa.

LULU. Das erinnert an alte Zeiten. Sieht sich, während Alwa zwei Gläser füllt, im Saal um. Wo ist denn mein Bild?

ALWA. Das habe ich in meinem Zimmer, damit man es hier nicht sieht.

LULU. Hol doch das Bild her.

ALWA. Hast du deine Eitelkeit auch im Gefängnis nicht verloren?

LULU. Wie angstvoll einem ums Herz wird, wenn man monatelang sich selbst nicht mehr gesehen hat. Dann bekam ich eine nagelneue Kehrichtschaufel. Wenn ich morgens um sieben ausfegte, hielt ich sie mir mit der Rückseite vors Gesicht. Das Blech schmeichelt nicht, aber ich hatte doch meine Freude. – Hol das Bild aus deinem Zimmer. Soll ich mitkommen?

ALWA. Um Gottes willen, du mußt dich schonen!

LULU. Ich habe mich jetzt lang genug geschont.


Alwa geht durch die Türe links ab, um das Bild zu holen.


LULU allein. Er ist herzleidend; aber sich vierzehn Monate mit der Einbildung plagen müssen ... Er küßt mit Todesbangen, und seine beiden Knie schlottern, wie bei einem ausgefrorenen Handwerksburschen. In Gottes Namen! – – Hätte ich in diesem Zimmer nur seinen Vater nicht in den Rücken geschossen!

ALWA kommt zurück mit Lulus Bild im Pierrotkostüm. Es ist ganz verstaubt. Ich hatte es mit der Vorderseite gegen den Kamin gelehnt.

LULU. Du hast es nicht angesehen, während ich fort war?[338]

ALWA. Ich hatte infolge des Verkaufs unserer Zeitung so viel geschäftliche Dinge zu erledigen. Die Geschwitz würde es gerne bei sich in ihrer Wohnung aufgehängt haben, aber sie hatte Haussuchungen zu gewärtigen.


Er hebt das Bild auf die Staffelei.


LULU froh. Nun lernt das arme Ungeheuer das Freudenleben im Hotel Ochsenbutter auch aus eigner Erfahrung kennen.

ALWA. Ich begreife noch jetzt nicht, wie die Ereignisse eigentlich zusammenhängen.

LULU. Oh, die Geschwitz hat das sehr klug eingerichtet; ich bewundere ihren Erfindungsgeist. In Hamburg muß diesen Sommer doch die Cholera so furchtbar gewütet haben. Darauf gründete sie ihren Plan zu meiner Befreiung. Sie nahm hier einen Krankenpflegerinnenkursus, und als sie die nötigen Zeugnisse hatte, reiste sie damit nach Hamburg und pflegte die Cholerakranken. Bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, zog sie dann die Unterkleider an, in denen eben eine Kranke gestorben war und die eigentlich hätten verbrannt werden müssen. Am selben Morgen reiste sie noch hierher und kam zu mir ins Gefängnis. In meiner Zelle, als die Aufseherin draußen war, vertauschten wir beide dann rasch unsere Unterkleider.

ALWA. Das also war die Ursache, weshalb die Geschwitz und du am gleichen Tage an der Cholera erkrankten?!

LULU. Gewiß! Das war der Grund. – Die Geschwitz wurde aus ihrer Wohnung natürlich sofort in die Isolierbaracke beim Krankenhaus gebracht. Aber mit mir wußte man auch nirgends anders hin. So lagen wir in einem Zimmer in der Isolierbaracke hinter dem Krankenhaus, und die Geschwitz bot vom ersten Tag an alle ihre Künste auf, um unsere Gesichter einander so ähnlich wie möglich zu machen. Vorgestern wurde sie als geheilt entlassen. Eben kam sie nun wieder und sagte, sie habe ihre Uhr vergessen. Ich zog ihre Kleider an, sie schlüpfte in meinen Gefängniskittel, und dann ging ich fort. Vergnügt. Jetzt liegt sie dort drüben als die Mörderin des Dr. Schön.

ALWA. Mit dem Bilde kannst du es, soweit es die äußere Erscheinung betrifft, immer noch aufnehmen.[339]

LULU. Im Gesicht bin ich etwas schmal, aber sonst habe ich nichts verloren. Man wird nur unglaublich nervös im Gefängnis.

ALWA. Du sahst schrecklich elend aus, als du hereinkamst.

LULU. Das mußte ich, um uns den Springfritzen vom Halse zu schaffen. – Und du, was hast du in den anderthalb Jahren getan?

ALWA. Ich hatte mit einem Stück, das ich über dich geschrieben, einen Achtungserfolg in der literarischen Gesellschaft.

LULU. Wer ist dein Schatz?

ALWA. Eine Schauspielerin, der ich eine Wohnung in der Karlstraße gemietet habe.

LULU. Liebt sie dich?

ALWA. Wie soll ich das wissen! Ich habe die Frau seit sechs Wochen nicht gesehen.

LULU. Erträgst du das?

ALWA. Das wirst du nie begreifen. Bei mir besteht die intimste Wechselwirkung zwischen meiner Sinnlichkeit und meinem geistigen Schaffen. So zum Beispiel bleibt mir dir gegenüber nur die Wahl, dich künstlerisch zu gestalten oder dich zu lieben.

LULU im Märchenton. Mir träumte alle paar Nächte einmal, ich sei einem Lustmörder unter die Hände geraten. Komm, gib mir einen Kuß!

ALWA. In deinen Augen schimmert es, wie der Wasserspiegel in einem tiefen Brunnen, in den man einen Stein geworfen hat.

LULU. Komm!

ALWA küßt sie. Deine Lippen sind allerdings etwas schmal geworden.

LULU. Komm! Sie drängt ihn in einen Sessel und setzt sich ihm aufs Knie. Graut dir vor mir? – Im Hotel Ochsenbutter bekamen wir alle vier Wochen ein lauwarmes Bad. Die Aufseherinnen benutzten dann die Gelegenheit, um uns, sobald wir im Wasser waren, die Taschen zu durchsuchen. Sie küßt ihn leidenschaftlich.

ALWA. Oh, oh!

LULU. Du fürchtest, du könntest, wenn ich fort bin, kein Gedicht mehr über mich machen?[340]

ALWA. Im Gegenteil, ich werde einen Dithyrambus über deine Herrlichkeit schreiben.

LULU. Ich ärgere mich nur über das scheußliche Schuhwerk, das ich trage.

ALWA. Das beeinträchtigt deine Reize nicht. Laß uns der Gunst des Augenblickes dankbar sein.

LULU. Mir ist heute gar nicht danach zumut. – Erinnerst du dich des Kostümballes, auf dem ich als Knappe gekleidet war? Wie mir damals die beschwipsten Frauen nachrannten! Die Geschwitz kroch mir um die Füße herum und bat mich, ich möchte ihr mit meinen Zeugschuhen ins Gesicht treten.

ALWA. Komm, süßes Herz!

LULU in dem Tone, in dem man ein unartiges Kind beruhigt. Ruhig; ich habe deinen Vater erschossen.

ALWA. Deswegen liebe ich dich nicht weniger. Einen Kuß!

LULU. Beug den Kopf zurück.


Sie küßt ihn mit Bedacht.


ALWA. Du hältst meine Seelenglut durch die geschicktesten Künste zurück. Dabei atmet deine Brust so keusch. Und trotzdem, wenn deine beiden großen, dunklen Kinderaugen nicht wären, müßte ich dich für die abgefeimteste Dirne halten, die je einen Mann ins Verderben gestürzt hat.

LULU aufgeräumt. Wollte Gott, ich wäre das! Komm heute mit über die Grenze. Dann können wir uns sehen, sooft wir wollen, und werden mehr Vergnügen als jetzt aneinander haben.

ALWA. Durch dieses Kleid empfinde ich deinen Wuchs wie eine Symphonie. Diese schmalen Knöchel, dieses Cantabile; dieses entzückende Anschwellen; und diese Knie, dieses Capriccio; und das gewaltige Andante der Wollust. – Wie friedlich sich die beiden schlanken Rivalen in dem Bewußtsein aneinanderschmiegen, daß keiner dem andern an Schönheit gleichkommt – bis die launische Gebieterin erwacht und die beiden Nebenbuhler wie zwei feindliche Pole auseinanderweichen. Ich werde dein Lob singen, daß dir die Sinne vergehn!

LULU lustig. Derweil vergrabe ich meine Hände in deinem Haar. Sie tut es. Aber hier stört man uns.

ALWA. Du hast mich um meinen Verstand gebracht![341]

LULU. Kommst du heute nicht mit?

ALWA. Der Alte fährt doch mit dir!

LULU. Der kommt nicht mehr zum Vorschein. – Ist das noch der Diwan, auf dem sich dein Vater verblutet hat?

ALWA. Schweig – Schweig ...[342]

Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 322-343.
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