Vierter Auftritt

[249] Schwarz. Lulu.


SCHWARZ beugt sich nach links, spuckt aus. Pack! – Wäre doch das Leben zu Ende! – Der Brotkorb! – Brotkorb und Maulkorb! Jetzt bäumt sich mein Künstlerstolz. Nach einem Blick auf Lulu. Diese Gesellschaft! – Erhebt sich, geht nach rechts hinten, betrachtet Lulu von allen Seiten, setzt sich wieder an die Staffelei. Die Wahl würde einem schwer. – – Wenn ich Frau Obermedizinalrat ersuchen darf, die rechte Hand etwas höher.

LULU nimmt den Schäferstab, so hoch sie reichen kann, für sich. Wer hätte das für möglich gehalten!

SCHWARZ. Ich bin wohl recht lächerlich?

LULU. Er kommt gleich zurück.

SCHWARZ. Ich kann nicht mehr tun als malen.

LULU. Da ist er.

SCHWARZ sich erhebend. Nun?

LULU. Hören Sie nicht?

SCHWARZ. Es kommt jemand ...

LULU. Ich wußte es ja.

SCHWARZ. Es ist der Hausmeister. Er fegt die Treppe.

LULU. Gott sei Dank.

SCHWARZ. Sie begleiten Herrn Obermedizinalrat wohl auf seine Praxis?

LULU. Das fehlte mir noch!

SCHWARZ. Weil Sie es nicht gewohnt sind, allein zu sein.

LULU. Wir haben zu Hause eine Haushälterin.

SCHWARZ. Die Ihnen Gesellschaft leistet?

LULU. Sie hat viel Geschmack.

SCHWARZ. Wofür?

LULU. Sie zieht mich an.

SCHWARZ. Sie gehen wohl viel auf Bälle?

LULU. Nie.

SCHWARZ. Wozu brauchen Sie denn dann die Toiletten?

LULU. Zum Tanzen.

SCHWARZ. Sie tanzen wirklich?

LULU. Csardas – Samaqueca – Skirtdance ...

SCHWARZ. Widert Sie denn das nicht an?[249]

LULU. Sie finden mich häßlich?

SCHWARZ. Sie verstehen mich nicht. – Wer gibt Ihnen denn den Unterricht?

LULU. Er.

SCHWARZ. Wer?

LULU. Er.

SCHWARZ. Er?

LULU. Er spielt Violine. – – –

SCHWARZ. Man lernt jeden Tag ein neues Stück Welt kennen.

LULU. Ich habe in Paris gelernt. Ich nahm Stunden bei Eugénie Fougère. Sie hat mich auch ihre Kostüme kopieren lassen.

SCHWARZ. Wie sind denn die?

LULU. Grünes Spitzenröckchen bis zum Knie, ganz in Volants, dekolletiert natürlich, sehr dekolletiert und fürchterlich geschnürt. Hellgrüner Unterrock, dann immer heller. Schneeweiße Dessous mit handbreiten Spitzen ...

SCHWARZ. Ich kann nicht mehr ...

LULU. Malen Sie doch!

SCHWARZ mit dem Spachtel schabend. Ist Ihnen denn nicht kalt?

LULU. Gott bewahre! Nein. Wie kommen Sie auf die Frage? Ist Ihnen denn so kalt?

SCHWARZ. Heute nicht. Nein.

LULU. Gottlob kann man atmen!

SCHWARZ. Wieso ...

LULU atmet tief ein.

SCHWARZ. Lassen Sie das, bitte! – Springt auf, wirft Pinsel und Palette weg, geht auf und nieder. Der Stiefelputzer hat es wenigstens nur mit ihren Füßen zu tun. Seine Farbe frißt ihm auch nicht ins Geld. Wenn mir morgen das Abendbrot fehlt, fragt mich kein Weltdämchen danach, ob ich mich aufs Austernschlecken verstehe.

LULU. Ist das ein Unhold!

SCHWARZ nimmt die Arbeit wieder auf. Was jagt den Kerl auch in diese Probe!

LULU. Mir wäre es auch lieber, er wäre dageblieben.

SCHWARZ. Wir sind wirklich die Märtyrer unseres Berufes!

LULU. Ich wollte Ihnen nicht weh tun.

SCHWARZ zögernd, zu Lulu. Wenn Sie links – das Beinkleid – ein wenig höher ...[250]

LULU. Hier?

SCHWARZ tritt zum Podium. Erlauben Sie ...

LULU. Was wollen Sie?

SCHWARZ. Ich zeige es Ihnen.

LULU. Es geht nicht.

SCHWARZ. Sie sind nervös ...


Will ihre Hand fassen.


LULU wirft ihm den Schäferstab ins Gesicht. Lassen Sie mich in Ruhe! Eilt zur Entreetür. Sie bekommen mich noch lange nicht.

SCHWARZ. Sie verstehen keinen Scherz.

LULU. Doch, ich verstehe alles. Lassen Sie mich nur frei. Mit Gewalt erreichen Sie gar nichts bei mir. Gehen Sie an Ihre Arbeit. Sie haben kein Recht, mich zu belästigen. Flüchtet hinter die Ottomane. Setzen Sie sich hinter Ihre Staffelei.

SCHWARZ will um die Ottomane. Sobald ich Sie für Ihre Launenhaftigkeit bestraft habe.

LULU ausweichend. Dazu müssen Sie mich aber erst haben. Gehen Sie, Sie erwischen mich doch nicht. – In langen Kleidern wäre ich Ihnen längst in die Hände gefallen. – Aber in dem Pierrot!

SCHWARZ sich der Länge nach über die Ottomane werfend. Habe ich dich!

LULU schlägt ihm das Tigerfell über den Kopf. Gute Nacht! Springt über das Podium, klettert auf die Trittleiter. Ich sehe über alle Städte der Erde weg ...

SCHWARZ sich aus der Decke wickelnd. Dieser Balg!

LULU. Ich greife in den Himmel und stecke mir die Sterne ins Haar.

SCHWARZ ihr nachkletternd. Ich schüttle, bis Sie herunterfallen.

LULU höher steigend. Wenn Sie nicht aufhören, werfe ich die Leiter um. Werden Sie meine Beine loslassen. – Gott schütze Polen! Bringt die Leiter zu Fall, springt auf das Podium und wirft Schwarz, wie er sich vom Boden aufrafft, die spanische Wand an den Kopf. Nach vorn eilend, an den Staffeleien. Ich habe Ihnen ja gesagt, daß Sie mich nicht bekommen.

SCHWARZ nach vorn kommend. Lassen Sie uns Frieden schließen. Will sie umfassen.

LULU. Bleiben Sie mir vom Leib, oder ... Sie wirft ihm die[251] Staffelei mit dem Brustbild entgegen, daß beides krachend zu Boden stürzt.

SCHWARZ schreit auf. Barmherziger Gott!

LULU links hinten. Das Loch haben Sie selber hineingeschlagen.

SCHWARZ. Ich bin ruiniert! Zehn Wochen Arbeit, meine Reise, meine Ausstellung. – Jetzt ist nichts mehr zu verlieren.


Stürzt ihr nach.


LULU springt über die Ottomane, über die umgestürzte Trittleiter, kommt über das Podium nach vorn. Ein Graben! – Fallen Sie nicht hinein! Stapft durch das Brustbild. Sie hat einen neuen Menschen aus ihm gemacht!


Fällt vornüber.


SCHWARZ über die spanische Wand stolpernd. Ich kenne kein Erbarmen mehr.

LULU im Hintergrund. Lassen Sie mich jetzt in Ruhe. – Mir wird schwindlig. – – O Gott, o Gott ... Kommt nach vorn und sinkt auf die Ottomane.


Schwarz verriegelt die Tür. Darauf setzt er sich neben sie, ergreift ihre Hand und bedeckt sie mit Küssen, hält inne; man sieht ihm an, daß er einen inneren Kampf kämpft.


LULU schlägt die Augen auf. Er kann zurückkommen.

SCHWARZ. Wie ist dir?

LULU. Als wäre ich ins Wasser gefallen ...

SCHWARZ. Ich liebe dich.

LULU. Ich liebte einmal einen Studenten.

SCHWARZ. Nelli ...

LULU. Mit vierundzwanzig Schmissen ...

SCHWARZ. Ich liebe dich, Nelli.

LULU. Ich heiße nicht Nelli.

SCHWARZ küßt sie.

LULU. Ich heiße Lulu.

SCHWARZ. Ich werde dich Eva nennen.

LULU. Wissen Sie, wieviel Uhr es ist?

SCHWARZ nach der Uhr sehend. Halb elf.

LULU nimmt die Uhr und öffnet das Gehäuse.

SCHWARZ. Du liebst mich nicht.[252]

LULU. Doch ... Es ist fünf Minuten nach halb elf.

SCHWARZ. Gib mir einen Kuß, Eva!

LULU nimmt ihn am Kinn und küßt ihn, wirft die Uhr in die Luft und fängt sie auf. Sie riechen nach Tabak.

SCHWARZ. Warum sagst du nicht »du«?

LULU. Es würde unbehaglich.

SCHWARZ. Du verstellst dich!

LULU. Sie verstellen sich selber, wie mir scheint. – Ich mich verstellen? Wie kommen Sie nur darauf? – Das hatte ich niemals nötig.

SCHWARZ erhebt sich, fassungslos, sich mit der Hand über die Stirn fahrend. Allmächtiger! Ich kenne die Welt nicht ...

LULU schreit. Bringen Sie mich nur nicht um!

SCHWARZ sich rasch umwendend. Du hast noch nie geliebt ...

LULU sich halb aufrichtend. Sie haben noch nie geliebt ...!

GOLL von außen. Machen Sie auf!

LULU ist aufgesprungen. Verstecken Sie mich! O Gott, verstecken Sie mich!

GOLL gegen die Tür polternd. Machen Sie auf!


Schwarz will zur Tür.


LULU hält ihn zurück. Er schlägt mich tot.

GOLL gegen die Tür polternd. Machen Sie auf!

LULU vor Schwarz niedergesunken, umfaßt seine Knie. Er schlägt mich tot. Er schlägt mich tot.

SCHWARZ. Stehen Sie auf ...


Die Tür fällt krachend ins Atelier.


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 249-253.
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