Zweiter Auftritt

[261] Lulu. Schigolch.


SCHIGOLCH von Lulu hereingeführt. Ich hatte ihn mir etwas chevaleresker gedacht; ein wenig mehr Nimbus. Er ist etwas verlegen. Er brach ein wenig in die Knie, als er mich vor sich sah.

LULU rückt ihm einen Sessel zurecht. Wie kannst du ihn auch anbetteln?

SCHIGOLCH. Deswegen habe ich meine siebenundsiebzig Lenze nämlich hergeschleppt. Du sagtest mir, er halte sich morgens an seine Malerei.

LULU. Er hatte noch nicht ausgeschlafen. Wieviel brauchst du?

SCHIGOLCH. Zweihundert, wenn du soviel flüssig hast; meinetwegen dreihundert. Es sind mir einige Klienten verduftet.

LULU geht an den Schreibtisch und kramt in den Schubladen. Bin ich müde!

SCHIGOLCH sich umsehend. Das hat mich nämlich auch bewogen. Ich hätte lange gerne gesehen, wie es jetzt so bei dir zu Hause aussieht.

LULU. Nun?

SCHIGOLCH. Es überläuft einen. Emporblickend. Wie bei mir vor fünfzig Jahren. Statt der Bummelagen hatte man damals[261] noch alte verrostete Säbel. Den Teufel noch mal, du hast es weit gebracht. Scharrend. Die Teppiche ...

LULU gibt ihm zwei Billetts. Ich gehe am liebsten barfuß darauf.

SCHIGOLCH Lulus Porträt betrachtend. Das bist du?

LULU zwinkernd. Fein?

SCHIGOLCH. Wenn das alles Gutes ist.

LULU. Einen Süßen?

SCHIGOLCH. Was denn?

LULU erhebt sich. Elixier de Spaa.

SCHIGOLCH. Hilft nichts! – Trinkt er?

LULU nimmt aus einem Schränkchen neben dem Kamin Karaffe und Gläser. Noch nicht. Nach vorn kommend. Das Labsal wirkt so verschieden!

SCHIGOLCH. Er schlägt aus?

LULU zwei Gläser füllend. Er schläft ein.

SCHIGOLCH. Wenn er betrunken ist, kannst du ihm in die Eingeweide sehen.

LULU. Lieber nicht. Setzt sich Schigolch gegenüber. Erzähl mir.

SCHIGOLCH. Die Straßen werden immer länger und die Beine immer kürzer.

LULU. Und deine Harmonika?

SCHIGOLCH. Hat falsche Luft, wie ich mit meinem Asthma. Ich denke nur immer, das Ausbessern ist nicht mehr der Mühe wert.


Stößt mit ihr an.


LULU leert ihr Glas. Ich glaubte schon, du wärest am Ende ...

SCHIGOLCH. ... am Ende schon auf und davon? – Das glaubte ich auch schon. Aber wenn so erst die Sonne hinunter ist, dann läßt es einen doch noch nicht ruhen. Ich hoffe auf den Winter. Da wird hustend mein – mein – mein Asthma wohl eine Fahrgelegenheit ausfindig zu machen wissen.

LULU die Gläser füllend. Du meinst, man könnte dich drüben vergessen haben.

SCHIGOLCH. Wär schon möglich, weil es ja nicht der Reihe nach geht. Ihr das Knie streichelnd. Nun erzähl du mal – lange nicht gesehen – meine kleine Lulu.

LULU zurückrückend, lächelnd. Das Leben ist doch unfaßlich!

SCHIGOLCH. Was weißt du! Du bist noch so jung.

LULU. Daß du mich Lulu nennst.[262]

SCHIGOLCH. Lulu, nicht? Habe ich dich jemals anders genannt?

LULU. Ich heiße seit Menschengedenken nicht mehr Lulu.

SCHIGOLCH. Eine andere Benennungsweise?

LULU. Lulu klingt mir ganz vorsintflutlich.

SCHIGOLCH. Kinder! Kinder!

LULU. Ich heiße jetzt ...

SCHIGOLCH. Als bliebe das Prinzip nicht immer das gleiche!

LULU. Du meinst?

SCHIGOLCH. Wie heißt es jetzt?

LULU. Eva.

SCHIGOLCH. Gehupft wie gesprungen!

LULU. Ich höre darauf.

SCHIGOLCH sieht sich um. So habe ich es für dich geträumt. Du bist darauf angelegt. Was soll denn das?

LULU sich mit einem Parfümflakon besprengend. Heliotrop.

SCHIGOLCH. Riecht das besser als du?

LULU ihn besprengend. Das braucht dich wohl nicht mehr zu kümmern.

SCHIGOLCH. Wer hätte den königlichen Luxus vorausgeahnt!

LULU. Wenn ich zurückdenke – – Hu!

SCHIGOLCH ihr das Knie streichelnd. Wie geht's dir denn? Treibst du noch immer Französisch?

LULU. Ich liege und schlafe.

SCHIGOLCH. Das ist vornehm. Das sieht immer nach so was aus. Und weiter?

LULU. Und strecke mich – bis es knackt.

SCHIGOLCH. Und wenn es geknackt hat?

LULU. Was interessiert dich das!

SCHIGOLCH. Was mich das interessiert? Was mich das interessiert? Ich wollte lieber bis zur jüngsten Posaune leben und auf alle himmlischen Freuden Verzicht leisten, als meine Lulu hienieden in Entbehrung zurücklassen. Was mich das interessiert? Es ist mein Mitgefühl. Ich bin ja mit meinem besseren Ich schon verklärt. Aber ich habe noch das Verständnis für diese Welt.

LULU. Ich nicht.

SCHIGOLCH. Dir ist zu wohl.

LULU schaudernd. Blödsinnig ...

SCHIGOLCH. Wohler als bei dem alten Tanzbär?

LULU wehmütig. Ich tanze nicht mehr ...[263]

SCHIGOLCH. Für den war es auch Zeit.

LULU. Jetzt bin ich ...


Stockt.


SCHIGOLCH. Sprich, wie es dir ums Herz ist, mein Kind! Ich hatte Vertrauen in dich, als noch nichts an dir zu sehen war als deine zwei großen Augen. Was bist du jetzt?

LULU. Ein Tier! ...

SCHIGOLCH. Daß dich der! – Und was für ein Tier! – Ein feines Tier! – Ein elegantes Tier! – Ein Prachtstier! – – Dann will ich mich man beisetzen lassen. – Mit den Vorurteilen sind wir fertig. Auch mit dem gegen die Leichenwäscherin.

LULU. Du hast nicht zu fürchten, daß du noch mal gewaschen wirst!

SCHIGOLCH. Macht auch nichts. Man wird doch wieder schmutzig.

LULU ihn besprengend. Es würde dich noch mal ins Leben zurückrufen.

SCHIGOLCH. Wir sind Moder.

LULU. Bitte recht schön! Ich reibe mich täglich mit Kammfett ein und dann kommt Puder darauf.

SCHIGOLCH. Auch wohl der Mühe wert, der Zierbengel wegen.

LULU. Das macht die Haut wie Satin.

SCHIGOLCH. Als wäre es deswegen nicht auch nur Dreck.

LULU. Danke schön. Ich will zum Anbeißen sein.

SCHIGOLCH. Sind wir auch. Geben da unten nächstens ein großes Diner. Halten offene Tafel.

LULU. Deine Gäste werden sich dabei kaum überessen.

SCHIGOLCH. Geduld, Mädchen! Dich setzen deine Verehrer auch nicht in Weingeist. Das heißt schöne Melusine, solang es seine Schwungkraft behält. Nachher? Man nimmt's im zoologischen Garten nicht. Sich erhebend. Die holden Bestien bekämen Magenkrämpfe.

LULU sich erhebend. Hast du auch genug?

SCHIGOLCH. Es bleibt noch genug übrig, um mir eine Terebinthe aufs Grab zu pflanzen. – Ich finde selber hinaus. Ab.


Lulu begleitet ihn und kommt mit Dr. Schön zurück.[264]


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 261-265.
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