Vierter Auftritt

[270] Schwarz. Die Vorigen.


SCHWARZ einen Pinsel in der Hand, links unter der Portiere. Was ist denn los?

LULU zu Schön. Nun, reden Sie doch.

SCHWARZ. Was habt ihr denn?

LULU. Nichts, was dich betrifft ...

SCHÖN rasch. Ruhig!

LULU. Man hat mich satt.


Schwarz führt Lulu nach links ab.


SCHÖN blättert in einem der Bücher, die auf dem Tisch liegen. Es mußte zur Sprache kommen. – – Ich muß endlich die Hände frei haben.

SCHWARZ zurückkommend. Ist denn das eine Art zu scherzen?

SCHÖN auf einen Sessel deutend. Bitte.

SCHWARZ. Was ist denn?

SCHÖN. Bitte.

SCHWARZ sich setzend. Nun?

SCHÖN sich setzend. Du hast eine halbe Million geheiratet ...

SCHWARZ. Ist sie weg?

SCHÖN. Nicht ein Pfennig.

SCHWARZ. Erklär mir den eigentümlichen Auftritt.

SCHÖN. Du hast eine halbe Million geheiratet ...

SCHWARZ. Daraus kann man mir kein Verbrechen machen.

SCHÖN. Du hast dir einen Namen geschaffen. Du kannst unbehelligt arbeiten. Du brauchst dir keinen Wunsch zu versagen ...

SCHWARZ. Was habt ihr beide denn gegen mich?

SCHÖN. Seit sechs Monaten schwelgst du in allen Himmeln. Du hast eine Frau, um deren Vorzüge die Welt dich beneidet und die einen Mann verdient, den sie achten kann ...

SCHWARZ. Achtet sie mich nicht?

SCHÖN. Nein ...

SCHWARZ beklommen. – Ich komme aus den düstren Tiefen der Gesellschaft. Sie ist von oben her. Ich hege keinen heißeren Wunsch, als ihr ebenbürtig zu werden. Schön die Hand reichend. Ich danke dir.[270]

SCHÖN halb verlegen seine Hand drückend. Bitte, bitte.

SCHWARZ mit Entschlossenheit. Sprich!

SCHÖN. Nimm sie etwas mehr unter Aufsicht.

SCHWARZ. Ich – sie?

SCHÖN. Wir sind keine Kinder! Wir tändeln nicht. Wir leben. – Sie fordert ernst genommen zu werden. Ihr Wert gibt ihr das volle Recht dazu.

SCHWARZ. Was tut sie denn?

SCHÖN. – Du hast eine halbe Million geheiratet!

SCHWARZ erhebt sich, außer sich. Sie ...

SCHÖN nimmt ihn bei der Schulter. Nein, das ist der Weg nicht! Nötigt ihn, sich zu setzen. Wir haben hier sehr ernst miteinander zu sprechen.

SCHWARZ. Was tut sie?!

SCHÖN. Rechne dir erst genau an den Fingern nach, was du ihr zu verdanken hast, und dann ...

SCHWARZ. Was tut sie – Mensch!!

SCHÖN. Und dann mach dich für deine Fehler verantwortlich und nicht sonst jemand.

SCHWARZ. Mit wem? Mit wem?

SCHÖN. Wenn wir uns schießen sollen ...

SCHWARZ. Seit wann denn?!

SCHÖN ausweichend. – Ich komme nicht hierher, um Skandal zu machen. Ich komme, um dich vor dem Skandal zu retten.

SCHWARZ kopfschüttelnd. – Du hast sie mißverstanden.

SCHÖN verlegen. Damit ist mir nicht gedient. Ich kann dich in deiner Blindheit nicht so weiterleben sehen. Das Mädchen verdient eine anständige Frau zu sein. Sie hat sich, seit ich sie kenne, zu ihrem Besseren entwickelt.

SCHWARZ. Seit du sie kennst? – Seit wann kennst du sie denn?

SCHÖN. Etwa seit ihrem zwölften Jahr.

SCHWARZ verwirrt. Davon hat sie mir nichts gesagt.

SCHÖN. Sie verkaufte Blumen vor dem Alhambra-Café. Sie drückte sich barfuß zwischen den Gästen durch, jeden Abend zwischen zwölf und zwei.

SCHWARZ. Davon hat sie mir nichts gesagt.

SCHÖN. Daran hat sie recht getan! Ich sage es dir, damit du siehst, daß du es nicht mit moralischer Verworfenheit zu tun hast. Das Mädchen ist im Gegenteil außergewöhnlich gut veranlagt.[271]

SCHWARZ. Sie sagte, sie sei bei einer Tante aufgewachsen.

SCHÖN. Das war die Frau, der ich sie übergab. Sie war die beste Schülerin. Die Mütter stellten sie ihren Kindern als Vorbild hin. Sie besitzt Pflichtgefühl. Es ist einzig und allein dein Versehen, wenn du bis jetzt versäumt hast, sie bei ihren besten Seiten zu nehmen.

SCHWARZ schluchzend. O Gott ...!

SCHÖN mit Nachdruck. Kein o Gott!! An dem Glück, das du gekostet, kann nichts etwas ändern. Geschehen ist geschehen. Du überschätzest dich gegen besseres Wissen, wenn du dir einredest, zu verlieren. Es gilt zu gewinnen. Mit dem »O Gott« ist nichts gewonnen. Einen größeren Freundschaftsdienst habe ich dir noch nicht erwiesen. Ich spreche offen und biete dir meine Hilfe. Zeig dich dessen nicht unwürdig!

SCHWARZ von jetzt an mehr und mehr in sich zusammenbrechend. Als ich sie kennenlernte, sagte sie mir, sie habe noch nie geliebt.

SCHÖN. Wenn eine Witwe das sagt! Ihr gereicht es zur Ehre, daß sie dich zum Manne gewählt. Stelle die nämliche Anforderung an dich, und dein Glück ist makellos.

SCHWARZ. Er habe sie kurze Kleider tragen lassen.

SCHÖN. Er hat sie doch geheiratet! – Das war ihr Meisterstreich. Wie sie den Mann dazu gebracht, ist mir unfaßlich. Du mußt es jetzt ja wissen. Du genießt die Früchte ihrer Diplomatie.

SCHWARZ. Woher kannte Dr. Goll sie denn?

SCHÖN. Durch mich! – Es war nach dem Tode meiner Frau, als ich die ersten Beziehungen zu meiner gegenwärtigen Verlobten anknüpfte. Sie stellte sich dazwischen. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, meine Frau zu werden.

SCHWARZ wie von einer entsetzlichen Ahnung befallen. Und als ihr Mann dann starb?

SCHÖN. – Du hast eine halbe Million geheiratet!!

SCHWARZ jammernd. Wär ich geblieben, wo ich war! Wär ich Hungers gestorben!

SCHÖN mit Überlegenheit. Glaubst du denn, ich mache keine Zugeständnisse? Wer macht keine Zugeständnisse? Du hast eine halbe Million geheiratet. Du bist heute einer der ersten Künstler. Dazu kommt man nicht ohne Geld.[272] Du bist nicht derjenige, um über sie zu Gericht zu sitzen. Bei einer Herkunft, wie sie Mignon hat, kannst du unmöglich mit den Begriffen der bürgerlichen Gesellschaft rechnen.

SCHWARZ ganz wirr. Von wem sprichst du denn?

SCHÖN. Ich spreche von ihrem Vater. Du bist Künstler, sag ich. Deine Ideale liegen auf einem andern Gebiete als die eines Lohnarbeiters.

SCHWARZ. Ich verstehe von alledem kein Wort.

SCHÖN. Ich spreche von den menschenunwürdigen Verhältnissen, aus denen sich das Mädchen dank seiner Führung zu dem entwickelt hat, was sie ist!

SCHWARZ. Wer denn?

SCHÖN. Wer denn? – Deine Frau.

SCHWARZ. Eva??

SCHÖN. Ich nannte sie Mignon.

SCHWARZ. Ich meinte, sie hieße Nelli?

SCHÖN. So nannte sie Dr. Goll.

SCHWARZ. Ich nannte sie Eva ...

SCHÖN. Wie sie eigentlich hieß, weiß ich nicht.

SCHWARZ geistesabwesend. Sie weiß es vielleicht.

SCHÖN. Bei einem Vater, wie sie ihn hat, ist sie ja bei allen Fehlern das helle Wunder. Ich verstehe dich nicht ...

SCHWARZ. Er ist im Irrenhause gestorben ...?

SCHÖN. Er war ja eben hier!

SCHWARZ. Wer war da?

SCHÖN. Ihr Vater.

SCHWARZ. Hier – bei mir?

SCHÖN. Er drückte sich, als ich kam. Da stehen ja noch die Gläser.

SCHWARZ. Sie sagt, er sei im Irrenhause gestorben.

SCHÖN ermutigend. Laß sie Autorität fühlen! Sie verlangt nicht mehr, als unbedingt Gehorsam leisten zu dürfen. Bei Dr. Goll war sie wie im Himmel, und mit dem war nicht zu scherzen.

SCHWARZ kopfschüttelnd. Sie sagte, sie habe noch nie geliebt ...

SCHÖN. Aber mach mit dir selber den Anfang. Raff dich zusammen.

SCHWARZ. Geschworen hat sie!

SCHÖN. Du kannst kein Pflichtgefühl fordern, bevor du nicht deine eigene Aufgabe kennst.[273]

SCHWARZ. Bei dem Grabe ihrer Mutter!!

SCHÖN. Sie hat ihre Mutter nicht gekannt. Geschweige das Grab. – Ihre Mutter hat gar kein Grab.

SCHWARZ verzweifelt. Ich passe nicht hinein in die Gesellschaft.

SCHÖN. Was hast du?

SCHWARZ. Einen grauenhaften Schmerz.

SCHÖN erhebt sich, tritt zurück, nach einer Pause. Wahr sie dir, weil sie dein ist. – Der Moment ist entscheidend. Sie kann morgen für dich verloren sein.

SCHWARZ auf die Brust deutend. Hier, hier.

SCHÖN. Du hast eine halbe ... Sich besinnend. Sie ist dir verloren, wenn du den Augenblick versäumst!

SCHWARZ. Wenn ich weinen könnte! – Oh, wenn ich schreien könnte!

SCHÖN legt ihm die Hand auf die Schulter. Dir ist elend ...

SCHWARZ sich erhebend, anscheinend ruhig. Du hast recht, ganz recht.

SCHÖN seine Hand ergreifend. Wo willst du hin?

SCHWARZ. Mit ihr sprechen.

SCHÖN. Recht so. Begleitet ihn zur Türe rechts.


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 270-274.
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