Sechster Auftritt

[275] Alwa. Schön. Die Vorigen. Später Henriette.


SCHÖN Alwa hereinführend. Sei bitte ruhig.

ALWA sehr aufgeregt. In Paris ist Revolution ausgebrochen.

SCHÖN. Sei ruhig.

ALWA zu Lulu. Sie sind totenbleich.

SCHÖN an der Tür rüttelnd. Walter! – Walter! Man hört röcheln.

LULU. Gott erbarm dich ...

SCHÖN. Hast du kein Beil geholt?

LULU. Wenn eines da ist ...


Zögernd nach rechts hinten ab.


ALWA. Er mystifiziert uns.

SCHÖN. In Paris ist Revolution ausgebrochen?

ALWA. Auf der Redaktion rennen sie sich den Kopf gegen die Wand. Keiner weiß, was er schreiben soll.


[275] Es läutet auf dem Korridor.


SCHÖN gegen die Tür stampfend. Walter!

ALWA. Soll ich sie einrennen?

SCHÖN. Das kann ich auch. Wer da noch kommen mag! Sich emporrichtend. Das freut sich des Lebens und läßt es andere verantworten!

LULU kommt mit einem Küchenbeil zurück. Henriette ist nach Hause gekommen.

SCHÖN. Schließ die Tür hinter dir.

ALWA. Geben Sie her.


Nimmt das Beil und stößt es zwischen Pfosten und Türschloß.


SCHÖN. Du mußt es kräftiger fassen.

ALWA. Es kracht schon. Die Tür springt aus dem Schloß. Er läßt das Beil fallen und taumelt zurück.


Pause.


LULU auf die Tür deutend, zu Schön. Nach Ihnen.

SCHÖN weicht zurück.

LULU. Ihnen wird – schwindelig ...?


Schön wischt sich den Schweiß von der Stirn und tritt ein.


ALWA auf der Chaiselongue. Gräßlich!

LULU sich am Türpfosten haltend, die Finger zum Mund erhoben, schreit jäh auf. Oh! – Oh! Eilt zu Alwa. Ich kann nicht hierbleiben.

ALWA. Grauenhaft!

LULU ihn bei der Hand nehmend. Kommen Sie.

ALWA. Wohin?

LULU. Ich kann nicht allein sein. Mit Alwa nach links ab.


Schön kommt von rechts zurück, ein Schlüsselbund in der Hand; die Hand zeigt Blut; zieht die Tür hinter sich zu, geht zum Schreibtisch, schließt auf und schreibt zwei Billetts.


ALWA von links kommend. Sie zieht sich um.

SCHÖN. Sie ist fort?

ALWA. Auf ihr Zimmer. Sie zieht sich um.

SCHÖN klingelt.

HENRIETTE tritt ein.[276]

SCHÖN. Sie wissen, wo der Doktor Bernstein wohnt.

HENRIETTE. Gewiß, Herr Doktor. Gleich nebenan.

SCHÖN ihr ein Billett gebend. Bringen Sie das hinüber.

HENRIETTE. Im Falle, daß der Herr Doktor nicht zu Hause ist?

SCHÖN. Er ist zu Hause. Ihr das andere Billett gebend. Und das bringen Sie auf die Polizeidirektion. Nehmen Sie eine Droschke.

HENRIETTE ab.

SCHÖN. Ich bin gerichtet.

ALWA. Mir erstarrt das Blut.

SCHÖN nach rechts. Der Narr!

ALWA. Es ist ihm wohl ein Licht aufgegangen?

SCHÖN. Er hat sich zuviel mit sich selbst beschäftigt.


Lulu auf den Stufen links in Staubmantel und Spitzenhut.


ALWA. Wo wollen Sie denn jetzt hin?

LULU. Hinaus. Ich sehe es an allen Wänden.

SCHÖN. Wo hat er seine Papiere?

LULU. Im Schreibtisch.

SCHÖN am Schreibtisch. Wo?

LULU. Rechts unten. Kniet vor dem Schreibtisch nieder, öffnet eine Schublade und leert die Papiere auf den Boden. Hier. Es ist nichts zu fürchten. Er hatte keine Geheimnisse.

SCHÖN. Jetzt kann ich mich von der Welt zurückziehen.

LULU kniend. Schreiben Sie ein Feuilleton. Nennen Sie ihn Michel Angelo.

SCHÖN. Was hilft das – Nach rechts deutend. Da liegt meine Verlobung!

ALWA. Das ist der Fluch deines Spiels!

SCHÖN. Schrei es durch die Straßen!!

ALWA auf Lulu deutend. Hättest du, als meine Mutter starb, an dem Mädchen gehandelt, wie es recht und billig gewesen wäre.

SCHÖN nach rechts. Da verblutet meine Verlobung!

LULU sich erhebend. Ich bleibe nicht länger hier.

SCHÖN. In einer Stunde verkauft man die Extrablätter. Ich darf mich nicht auf die Straße wagen.[277]

LULU. Was können Sie denn dafür?

SCHÖN. Deshalb gerade! Mich steinigt man dafür!

ALWA. Du mußt verreisen.

SCHÖN. Um dem Skandal freies Feld zu lassen!

LULU an der Chaiselongue. Vor zehn Minuten noch lag er hier.

SCHÖN. Das ist der Dank, für das, was ich für ihn getan habe! Wirft mir in einer Sekunde mein ganzes Leben in Trümmer!

ALWA. Mäßige dich, bitte!

LULU auf der Chaiselongue. Wir sind unter uns.

ALWA. Und wie!

SCHÖN zu Lulu. Was willst du der Polizei sagen?

LULU. Nichts.

ALWA. Er wollte seinem Geschick nichts schuldig bleiben.

LULU. Er hatte immer gleich Mordgedanken.

SCHÖN. Er hatte, was sich ein Mensch nur erträumen kann!

LULU. Er hat es teuer bezahlt.

ALWA. Er hatte, was wir nicht haben!

SCHÖN jäh aufbrausend. Ich kenne deine Gründe. Ich habe nicht Ursache, Rücksicht auf dich zu nehmen! Wenn du alles in Bewegung setzt, um keine Geschwister neben dir zu haben, so ist das für mich ein Grund mehr, mir andere Kinder zu erziehen.

ALWA. Du bist ein schlechter Menschenkenner.

LULU. Geben Sie doch selber ein Extrablatt aus.

SCHÖN im Ton der heftigsten Empörung. Er hatte kein moralisches Gewissen! Indem er plötzlich seine Fassung wiedergewinnt. Paris revolutioniert –?

ALWA. Unsere Redakteure sind wie vom Schlag getroffen. Alles stockt.

SCHÖN. Das muß mir darüber hinweghelfen! – – Wenn nun nur die Polizei käme. Die Minuten sind nicht mit Gold zu bezahlen.


Es läutet auf dem Korridor.


ALWA. Da sind sie. ...


Schön will zur Tür.


LULU aufspringend. Warten Sie, Sie haben Blut.

SCHÖN. Wo ...?[278]

LULU. Warten Sie, ich wische es weg.


Besprengt ihr Taschentuch mit Heliotrop und wischt Schön das Blut von der Hand.


SCHÖN. Es ist deines Gatten Blut.

LULU. Es läßt keine Flecken.

SCHÖN. Ungeheuer!

LULU. Sie heiraten mich ja doch.


Es läutet auf dem Korridor.


LULU. Nur Geduld, Kinder.


Schön rechts hinten ab.


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 275-279.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Erdgeist
Erdgeist (Earth-spirit) a tragedy in four acts (1914)
Lulu (Erdgeist. Die Büchse der Pandora)
Erdgeist - Die Büchse der Pandora: Tragödien
Lulu (Erdgeist, Büchse der Pandora)

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Die beiden »Freiherren von Gemperlein« machen reichlich komplizierte Pläne, in den Stand der Ehe zu treten und verlieben sich schließlich beide in dieselbe Frau, die zu allem Überfluss auch noch verheiratet ist. Die 1875 erschienene Künstlernovelle »Ein Spätgeborener« ist der erste Prosatext mit dem die Autorin jedenfalls eine gewisse Öffentlichkeit erreicht.

78 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon