Dritte Szene

[105] Thea, Wendla und Martha kommen Arm in Arm die Straße herauf.


MARTHA. Wie einem das Wasser ins Schuhwerk dringt!

WENDLA. Wie einem der Wind um die Wangen saust!

THEA. Wie einem das Herz hämmert!

WENDLA. Gehn wir zur Brücke hinaus! Ilse sagte, der Fluß führe Sträucher und Bäume. Die Jungens haben ein Floß auf dem Wasser. Melchi Gabor soll gestern abend beinah ertrunken sein.

THEA. O der kann schwimmen!

MARTHA. Das will ich meinen, Kind!

WENDLA. Wenn der nicht hätte schwimmen können, wäre er wohl sicher ertrunken!

THEA. Dein Zopf geht auf, Martha; dein Zopf geht auf!

MARTHA. Puh – laß ihn aufgehn! Er ärgert mich so Tag und Nacht. Kurze Haare tragen wie du darf ich nicht, das Haar offen tragen wie Wendla darf ich nicht, Ponyhaare tragen darf ich nicht, und zu Hause muß ich mir gar die Frisur machen – alles der Tanten wegen!

WENDLA. Ich bringe morgen eine Schere mit in die Religionsstunde. Während du »Wohl dem, der nicht wandelt« rezitierst, werd ich ihn abschneiden.

MARTHA. Um Gottes willen, Wendla! Papa schlägt mich krumm, und Mama sperrt mich drei Nächte ins Kohlenloch.

WENDLA. Womit schlägt er dich, Martha?

MARTHA. Manchmal ist es mir, es müßte ihnen doch etwas abgehen, wenn sie keinen so schlecht gearteten Balg hätten wie ich.

THEA. Aber Mädchen!

MARTHA. Hast du dir nicht auch ein himmelblaues Band durch die Hemdpasse ziehen dürfen?

THEA. Rosa Atlas! Mama behauptet, Rosa stehe mir bei meinen pechschwarzen Augen.

MARTHA. Mir stand Blau reizend! – Mama riß mich am Zopf zum Bett heraus. So – fiel ich mit den Händen vorauf auf die Diele. – Mama betet nämlich Abend für Abend mit uns ...[105]

WENDLA. Ich an deiner Stelle wäre ihnen längst in die Welt hinausgelaufen.

MARTHA. ... Da habe man's, worauf ich ausgehe! – Da habe man's ja! – Aber sie wolle schon sehen – o sie wolle noch sehen! – Meiner Mutter wenigstens solle ich einmal keine Vorwürfe machen können ...

THEA. Hu – Hu –

MARTHA. Kannst du dir denken, Thea, was Mama damit meinte?

THEA. Ich nicht. – Du, Wendla?

WENDLA. Ich hätte sie einfach gefragt.

MARTHA. Ich lag auf der Erde und schrie und heulte. Da kommt Papa. Ritsch – das Hemd herunter. Ich zur Türe hinaus. Da habe man's! Ich wolle nun wohl so auf die Straße hinunter ...

WENDLA. Das ist doch gar nicht wahr, Martha.

MARTHA. Ich fror. Ich schloß auf. Ich habe die ganze Nacht im Sack schlafen müssen.

THEA. Ich könnte meiner Lebtag in keinem Sack schlafen!

WENDLA. Ich möchte ganz gern mal für dich in deinem Sack schlafen.

MARTHA. Wenn man nur nicht geschlagen wird.

THEA. Aber man erstickt doch darin!

MARTHA. Der Kopf bleibt frei. Unter dem Kinn wird zugebunden.

THEA. Und dann schlagen sie dich?

MARTHA. Nein. Nur wenn etwas Besonderes vorliegt.

WENDLA. Womit schlägt man dich, Martha?

MARTHA. Ach was – mit allerhand. – Hält es deine Mutter auch für unanständig, im Bett ein Stück Brot zu essen?

WENDLA. Nein, nein.

MARTHA. Ich glaube immer, sie haben doch ihre Freude – wenn sie auch nichts davon sagen. – Wenn ich einmal Kinder habe, ich lasse sie aufwachsen wie das Unkraut in unserem Blumengarten. Um das kümmert sich niemand, und es steht so hoch, so dicht – während die Rosen in den Beeten an ihren Stöcken mit jedem Sommer kümmerlicher blühn.

THEA. Wenn ich Kinder habe, kleid ich sie ganz in Rosa. Rosahüte, Rosakleidchen, Rosaschuhe. Nur die Strümpfe – die Strümpfe schwarz wie die Nacht! Wenn ich dann[106] spazierengehe, laß ich sie vor mir hermarschieren. – Und du, Wendla?

WENDLA. Wißt ihr denn, ob ihr welche bekommt?

THEA. Warum sollten wir keine bekommen?

MARTHA. Tante Euphemia hat allerdings auch keine.

THEA. Gänschen! – weil sie nicht verheiratet ist.

WENDLA. Tante Bauer war dreimal verheiratet und hat nicht ein einziges.

MARTHA. Wenn du welche bekommst, Wendla, was möchtest du lieber, Knaben oder Mädchen?

WENDLA. Jungens! Jungens!

THEA. Ich auch Jungens!

MARTHA. Ich auch. Lieber zwanzig Jungens als drei Mädchen.

THEA. Mädchen sind langweilig!

MARTHA. Wenn ich nicht schon ein Mädchen geworden wäre, ich würde es heute gewiß nicht mehr.

WENDLA. Das ist, glaube ich, Geschmacksache, Martha! Ich freue mich jeden Tag, daß ich Mädchen bin. Glaub mir, ich wollte mit keinem Königssohn tauschen. – Darum möchte ich aber doch nur Buben!

MARTHA. Das ist doch Unsinn, lauter Unsinn, Wendla!

WENDLA. Aber ich bitte dich, Kind, es muß doch tausendmal erhebender sein, von einem Manne geliebt zu werden als von einem Mädchen!

THEA. Du wirst doch nicht behaupten wollen, Forstreferendar Pfälle liebe Melitta mehr als sie ihn!

WENDLA. Das will ich wohl, Thea! – Pfälle ist stolz. Pfälle ist stolz darauf, daß er Forstreferendar ist – denn Pfälle hat nichts. – Melitta ist selig, weil sie zehntausendmal mehr bekommt, als sie ist.

MARTHA. Bist du nicht stolz auf dich, Wendla?

WENDLA. Das wäre doch einfältig.

MARTHA. Wie wollt ich stolz sein an deiner Stelle.

THEA. Sieh doch nur, wie sie die Füße setzt – wie sie geradeaus schaut – wie sie sich hält, Martha! – Wenn das nicht Stolz ist!

WENDLA. Wozu nur?! Ich bin so glücklich, Mädchen zu sein; wenn ich kein Mädchen wär, brächt ich mich um, um das nächste Mal ...


Melchior geht vorüber und grüßt.[107]


THEA. Er hat einen wundervollen Kopf.

MARTHA. So denke ich mir den jungen Alexander, als er zu Aristoteles in die Schule ging.

THEA. Du lieber Gott, die griechische Geschichte! Ich weiß nur noch, wie Sokrates in der Tonne lag, als ihm Alexander den Eselsschatten verkaufte.

WENDLA. Er soll der Drittbeste in seiner Klasse sein.

THEA. Professor Knochenbruch sagt, wenn er wollte, könnte er Primus sein.

MARTHA. Er hat eine schöne Stirne, aber sein Freund hat einen seelenvolleren Blick.

THEA. Moritz Stiefel? – Ist das eine Schlafmütze!

MARTHA. Ich habe mich immer ganz gut mit ihm unterhalten.

THEA. Er blamiert einen, wo man ihn trifft. Auf dem Kinderball bei Rilows bot er mir Pralinés an. Denke dir, Wendla, die waren weich und warm. Ist das nicht ...? – Er sagte, er habe sie zu lang in der Hosentasche gehabt.

WENDLA. Denke dir, Melchi Gabor sagte mir damals, er glaube an nichts – nicht an Gott, nicht an ein Jenseits – an gar nichts mehr in dieser Welt.


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 105-108.
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