Erste Szene

[7] Klara Hühnerwadel, dann Else Reißner.

Klara steht am Fenster. In der Ferne schlägt eine Turmuhr die siebente Stunde. Klara zählt laut die Schläge von eins bis sieben.


KLARA. Was, schon sieben Uhr! – Vor fünf Minuten hat es sechs geschlagen. – Eine ganze Stunde schon stehe ich hier! – Allmächtiger Gott, allmächtiger Gott, was ist aus mir geworden! Allmächtiger Himmel, was wird aus mir! Aufhorchend. Jetzt kommt jemand! Endlich! Endlich! Es klopft. Herein!


Else Reißner tritt ein, vollkommen verhetzt und verstört.


ELSE. Hier bin ich! Gott im Himmel weiß, wie ich bis hierher gekommen bin! Ich selbst werde es wohl niemals wissen! Ich glaubte, das Schrecklichste, was ein Mensch erleben kann – ich glaubte, das alles längst erlebt und hinter mir zu haben! Dieser Keulenschlag! Nein, ich war auf alles nur denkbar Mögliche gefaßt! Seit Jahren bin ich in jeder Minute, die ich atme, auf das Aller-, Allerschrecklichste gefaßt! Aber diese ... diese Keulenschläge! – Nein, ich weiß in diesem Augenblick nicht, ob ich überhaupt noch lebe!

KLARA. Aber du, Else? Warum kommst denn du?

ELSE. Warum ich komme? Ich? Ich bringe dir das Geld für dein Billett, für deine Fahrkarte bis Antwerpen! Hast du denn deine Sachen gepackt?

KLARA. Ich habe eine Tasche gepackt. Ich kann nichts anfassen! Ich kann nichts denken! Ich kann von hier nicht bis zu dem Schrank hinüber. Ich bin an Kopf und Händen gelähmt! Meine übrigen Sachen müssen mir nachgeschickt werden!

ELSE sinkt in einen Sessel. Allmächtiger Gott, ich kann mir nicht vorstellen, wie ich das überlebe!

KLARA. Else! – Ich wage dir nicht den kleinsten Schritt näher zu kommen. Ich ... Plötzlich von ihrem Gefühl überwältigt, wirft sie sich Else zu Füßen und umklammert ihre[7] Kniee. Else! Else! Kannst du mir denn vergeben? Kannst du mir verzeihen, Else? Ich bitte dich, Else, sag mir, daß du mir vergibst! Sag es mir, bitte! Du tust ein Werk der Barmherzigkeit, Else! Ich werde alles Entsetzliche, was mir bevorsteht, leichter ertragen können!

ELSE ihr das Haar streichelnd. Du, Klara? – Du tust mir unsäglich leid. – Mehr sagen kann ich nicht. Du bist ja nicht die Erste. Richtet sie mühsam empor. Aber was hilft uns das! Wo hast du denn deine Tasche?! Du mußt doch genügend Wäsche mitnehmen! Du weißt ja gar nicht, unter was für Menschen du bis morgen abend kommst!

KLARA. Ich muß natürlich fort! Muß so rasch wie möglich fort! Das ist selbstverständlich. Aber muß ich denn notwendig heute abend schon reisen?

ELSE. Das fragst du mich, Klara? Wie soll ich das wissen?! Ich weiß von der ganzen Sache nichts, als was mir Josef vor zwei Stunden erzählt hat. Ich bin ja von seinen Worten noch ganz betäubt! Er sagte, der Verhaftsbefehl gegen dich sei heute nachmittag erlassen worden, und wenn man dich noch nicht abhole, dann wolle man dir nur die Möglichkeit geben, heute noch über die Grenze zu kommen.

KLARA. Wenn ich hier bleibe, soll ich also morgen schon ins Gefängnis?! – O Gott im Himmel, wo hätte ich mir vor einem Jahr, als ich hierher kam, träumen lassen, daß mir solche Höllenqualen bevorständen!

ELSE. Ich habe mir – das kann ich bei allem, was heilig ist, schwören – bis vor zwei Stunden nichts von alledem träumen lassen! Ich habe Josef und dich seit einem Jahr, vor allem seit dem Tage, an dem du seine Privatschülerin wurdest, so angstvoll, so eifersüchtig beobachtet, wie nur eine Frau von meinen Erlebnissen zwei Menschen beobachten kann. Ich war ja das ganze Jahr hindurch auf gar nichts anderes gefaßt, als daß er ein Verhältnis mit dir anfangen werde! Ich bin aber offenbar ein Rindvieh, das man aus Gründen der öffentlichen Sicherheit totschlagen müßte! So überrascht hat mich noch in meinem Leben nichts wie die Eröffnungen, die mich jetzt in diesem entsetzlichen Augenblick zu dir hierherführen![8]

KLARA. Else! – Ich kann dir genau erzählen, wie alles gekommen ist, und zwar gerade von dem Augenblick an, wo ich seine Privatschülerin wurde! Ich hätte mich nie in meinem Leben darauf einlassen dürfen, seine Privatschülerin zu werden! Aber ich bin fest überzeugt, daß du, die du ihn kennst und liebst, ihm verzeihen wirst. Ich allein bin ja einzig an allem schuld! Ich ...

ELSE. Ich beschwöre dich hoch und teuer, Klara, erzähle mir nichts von euch! Ich habe nicht die Kraft, noch mehr zu hören, als was mir Josef erzählt hat! Ich wäre zum Speicher hinaufgerannt und hätte mich erhängt, wenn mich dein grauenvolles Elend nicht daran gehindert hätte! Josef sagt, du brauchest mindestens zweihundert Mark, sonst steckst du morgen im Gefängnis. Zwei Scheine aus ihrer Tasche nehmend. Hier ist das Geld! Frag mich nicht, von wem ich es habe! Um es zu bekommen, habe ich vielleicht eine neue hirnlose Eselei begangen, die sich nie in diesem Leben wieder gutmachen läßt!

KLARA. Der Himmel erbarme sich meiner, dann nehme ich dein Geld nicht! Ich habe Josef und dir durch meine verzweifelten Entschlüsse wahrhaftig schon Unglück genug gebracht! Lieber lasse ich mich morgen ins Gefängnis sperren!

ELSE. Was wird denn dann aber aus Josef und mir, wenn du ins Gefängnis kommst?! Josef verliert seine sämtlichen Schülerinnen, er verliert seine Stelle an der Akademie! Josef und die Kinder und ich sind brotlos! Deine Abreise ist das einzige, was uns alle retten kann!

KLARA das Geld nehmend. Von wem hast du denn das Geld bekommen?

ELSE. Von Franz Lindekuh habe ich es. Ich wußte in meiner Angst nirgends anders hin! Ich erzählte ihm, es handle sich um einen Wechsel, den Josef unterschrieben habe. Dabei kam Franz Lindekuh selber auf den Prozeß zu sprechen. Er sagte, in der morgigen Sitzung werde das Urteil gefällt. Er fand es unbegreiflich, daß ich die Zeitungsberichte nicht kannte. Franz Lindekuh hatte aber jedenfalls noch keine Ahnung davon, daß du, Klara, in den Prozeß verwickelt bist.[9]

KLARA. Hattest du denn die Zeitungsberichte wirklich nicht gelesen?

ELSE. Aber natürlich habe ich sie gelesen! Das war ja heute nachmittag das unsagbar Schauerliche! Ich sitze eben beim Kaffee und lese die Zeitung. Seit vierzehn Tagen hat mich in dem elenden Blatt überhaupt nichts anderes als der Prozeß der Frau Fischer mehr interessiert. Eine Frau, die sich Damen aus allen Gesellschaftskreisen, die sich den Folgen ihrer Abenteuer entziehen möchten, gegen die ungeheuersten Bezahlungen gefällig erweist; wen auf Gottes Welt interessiert ein solcher Prozeß nicht! Ich lese eben den zwölften Verhandlungstag; ich freute mich gerade darüber, daß nun endlich einmal keine gesellschaftlichen Unterschiede mehr gelten sollten, sondern daß rücksichtslos alle Schuldigen bestraft wurden. Da tritt Josef ein, totenbleich, und sagt, er brauche sofort zweihundert Mark, sonst seien wir beide verloren. Ich lachte vor mich hin, ich fragte ihn, ob er zuviel getrunken habe. Da schrie er. »Du hast es ja schwarz auf weiß vor dir gedruckt, wofür ich das Geld brauche.« Da ging mir ein Licht auf, wie ich es vor meinem Tode nicht noch einmal aufflammen sehen möchte. Ich stürzte die Treppe hinunter, um, koste es, was es wolle, die zweihundert Mark aufzutreiben. Darüber sind zwei Stunden vergangen. Ich hätte dir das Geld für deine Flucht mit dem besten Willen nicht rascher verschaffen können.

KLARA. Es läßt sich mit Worten nicht schildern, Else, was ich, während wir, Josef und du und ich, Abend für Abend beieinander saßen – was ich während dieser Abende an Folterqualen ausgestanden habe! Josef und ich, wir hatten einander kaum einmal die Hand gedrückt – es war ein Augenblick, in dem ich das Bewußtsein, einen eigenen Willen zu haben, vollständig verloren hatte –, da offenbarten sich mir auch schon die Folgen meiner Bewußtlosigkeit. Und nun saß ich mit euch beiden zusammen, saß dir, Else, Auge in Auge gegenüber, fühlte bei jedem Schluck, den du trankst, den Argwohn, mit dem du mich ins Auge faßtest, und mußte mir dabei gestehen, daß ich, deine Freundin, schlecht genug war, um[10] dich durch mein Benehmen immer und immer wieder über den wirklichen Sachverhalt hinwegzutäuschen! Aus dieser grauenhaften Weinstube, in der wir so oft beieinander saßen, ist mir jedes Bild und jedes Licht und jedes Gesicht wie ein unaufhörlich bohrendes Messer in Erinnerung! Und dann kam das Fürchterlichste! Mir krampfen sich heute noch die Finger zusammen, wenn ich an die Stunden zurückdenke! Meine Mutter schrieb mir, der schweizerische Bundesrat habe einstimmig beschlossen, ich solle am Schützenfest in Glarus die Partie der Eva in der »Schöpfung« von Haydn singen. Ich erschien mir aus den Himmeln meiner glühenden begeisterten Liebe für meine Kunst wie durch einen unerschütterlichen Blitzstrahl auf die Erde genagelt! Die erste große Aufgabe, die sich mir bietet, mußte mich in dieser Lage finden! Meine Mutter telegraphierte mir. Wann kommst du? Wann darf ich dich erwarten? – Und ich ... und ich ... aber meine künstlerische Zukunft durfte und konnte an diesem unseligen Zusammentreffen nicht scheitern! Drei Tage und drei Nächte habe ich eingeschlossen in meinem Zimmer vor Verzweiflung in mich hineingeschrien und mir die Finger blutig gebissen, um durch den körperlichen Schmerz meine Seelenqualen zu betäuben. Da fiel mein Blick zufällig auf eine Zeitungsannonce, deren Abfassung gar keinen Zweifel darüber ließ, worauf sie sich bezog. Und diese Annonce stand so gebieterisch vor meiner gemarterten Seele, als wäre mein dreitägiges Jammern um Gnade und Erbarmen endlich, endlich von einem höheren Wesen erhört worden! Ich hätte es für die himmelschreiendste Ruchlosigkeit gehalten, dem Wink nicht blindlings zu folgen. Am gleichen Abend ging ich zum erstenmal zu dieser Frau Fischer. Nachdem sich ihre Giftmischerei dann glücklich bei mir bewährt hatte, da war das Eidgenössische Schützenfest in Glarus längst vorbei und ich, ich war so zerrüttet, so elend, daß ich ein Vierteljahr lang überhaupt an kein Singen mehr denken konnte! – – Else! Hast du angesichts meines fürchterlichen Jammers denn gar kein Wort der Vergebung, des Erbarmens für mich?![11]

ELSE. Es kommt jemand.

KLARA aufhorchend. Ja, weiß Gott, es ist jemand gekommen! Das wird Josef sein! Da es klopft. Herein!


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1969, S. 7-12.
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