Zweite Szene

[12] Josef Reißner. Die Vorigen.


JOSEF hastig eintretend. Ja, was ich sagen wollte ... Zu Else. Hast du das Geld bekommen?

ELSE. Ich habe es Klara gegeben.

JOSEF zu Klara. Du mußt mit dem Zuge acht Uhr fünfzig fahren. Du kannst auf dem Bahnhof noch etwas essen. Morgen früh um zehn Uhr bist du in Antwerpen. Ich war eben noch auf einen Sprung im Justizpalast. Das Urteil wird jedenfalls heute abend noch gefällt. Man sagt, die Frau Fischer werde mit zwei Jahren Gefängnis davonkommen. Das läßt darauf schließen, daß ihre Mitschuldigen vielleicht völlig straflos ausgehen werden. Aber trotzdem mußt du fort. Die Staatsanwaltschaft würde es als die gröbste Herausforderung auffassen, wenn du hier bliebst. Zu Else. Ich traf Franz Lindekuh eben vor dem Justizpalast. Franz Lindekuh meinte, der Paragraph achthundertundzwölf sei überhaupt gar nicht zum Schutz des Kindes in das Strafgesetzbuch aufgenommen worden. Der Schutz des Kindes, meinte Franz Lindekuh, sei nur ein plumper Vorwand, durch den sich das Volksbewußtsein über den eigentlichen Zweck des Paragraphen achthundertundzwölf blauen Dunst vormache. Der eigentliche Zweck des Paragraphen achthundertundzwölf, meinte Franz Lindekuh, sei der, die Eingeweide des weiblichen Körpers als ein dem männlichen Unternehmungsgeist reserviertes Spekulationsgebiet strafrechtlich abzusperren. Übrigens hätte auch die Staatsanwaltschaft die Anklage gegen die Frau Fischer niemals erhoben, wenn die entlassene Magd der Frau Fischer nicht die schamlosesten Erpressungsversuche gemacht hätte. Die Frau Fischer hatte die Magd,[12] wie sich jetzt herausstellt, aus dem einfachen Grunde entlassen, weil die Person sie bestohlen hatte. Sie hatte ihr die Hemden aus dem Wäscheschrank gestohlen, und dann noch einen Schmuck von ihrer Großmutter, dessen Wert die Frau Fischer auf siebentausend Mark angab. Die Magd drohte dann nach ihrer Entlassung zuerst der Frau Fischer selber mit Anzeige, und als die ihr nicht antwortete, schrieb sie direkt an die jetzige Frau Oberstallmeister, die ihr natürlich auch nicht antwortete. Darauf schrieb sie an deren Mann, den Oberstallmeister selbst – selbstredend auch ohne Erfolg. Und dann wandte sie sich an die Mutter der Dame, eine hochangesehene sechzigjährige Gräfin, die in diesen Fragen vollkommen die gleichen Überzeugungen hat wie Franz Lindekuh, und die seit Jahren in allen Frauenvereinen für eine Petition an den Reichstag um Abänderung des Strafgesetzbuches Propaganda macht. Diese Dame übergab nun die Zuschrift der entlassenen Magd der Frau Fischer kurzweg der Staatsanwaltschaft. Offenbar hatte die alte Gans in ihrem Idealismus gehofft, daß ihr Schwiegersohn, den sie wie die Sünde haßt, nun gezwungen sein werde, die Kastanien, die ihr seit Jahren so sehr am Herzen liegen, aus dem Feuer zu holen.

ELSE sich erhebend. Ich bin jetzt hier in diesem Zimmer wohl überflüssig ...

JOSEF. Ja, was ich noch sagen wollte, Else ...

ELSE. Mir – Josef! – hast du hier in diesem Zimmer nichts mehr zu sagen. Das Geld, das du um fünf Uhr von mir verlangtest, habe ich Klara verschafft. Aber Klara hast du vor ihrer Abreise hier in diesem Zimmer wohl noch sehr vieles zu sagen. Und auch ich habe Klara hier in diesem Zimmer noch etwas zu sagen ...

KLARA. Mir, Else? – Ich nehme so unsagbar viel Unglück auf diese Fahrt mit – unglücklicher, als ich schon bin, kannst auch du, trotzdem du das größte Recht dazu hast, mich nicht mehr machen.

ELSE von plötzlichem Grauen gepackt. Nein, du barmherziger Himmel! Nein! Ich erbärmliches Unglücksgeschöpf! Ich weiß es ja, ich armselige Kreatur! Ich allein bin ja an eurem Verderben schuld, an unser aller Verderben![13] Könnte ich meinem Manne die Kurzweil bieten, die du ihm bietest! Könnte ich ihm sein, was du ihm bist! Ja ja, daß ich ihm das nicht sein kann, wie viele Unschuldige hat das nun schon ins Verderben gestürzt! O warum hat man mich elenden Schwächling nicht vor meinem ersten Atemholen erwürgt! – Sie trocknet ihre Tränen. Aber ich – ich kann euch mit meinem Geheule nicht die letzte Minute zur Hölle machen. – Lebt wohl! – Sie geht auf Klara zu und reicht ihr die Hand. Leb wohl, Klara!

KLARA mit einem bittenden Blick ihre Hand nehmend. Else!

ELSE weinend. Ich bitte dich nicht um Vergebung. Ich gehe. Das ist einfacher. – Ab.


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1969, S. 12-14.
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